Nachdem das HC-Genre im neuen Jahrtausend stagnierte und sich die geneigte Hörerschaft härterer Klänge – zunächst dem Screamo und im Anschluss daran eher dem Metalcore – widmete, erlebt das Genre seit einigen Jahren eine kleine Renaissance.
Ausgelöst durch die amerikanischen „The Wave“-Bands, bewegen sich auch hierzulande immer mehr Bands im Fahrwasser von Touché Amoré, Pianos Become the Teeth und Konsorten. The Tidal Sleep gehören zu den Bands, die sich vermeintlich in diesem Fahrwasser bewegen. Warum vermeintlich? Weil The Tidal Sleep erstens einen bis dato dermaßen überragenden Output geliefert haben, dass es einer Beleidigung nahe käme, die Band als eine „Fahrwasser-Band“ zu bezeichnen, und zweitens sind es eher Bands wie z.B. Cave In oder Envy, die Einfluss auf das Schaffen von The Tidal Sleep haben.
Das, was der selbstbetitelte Vorgänger sowie die Four Song EP andeuteten, wird auf dem vorliegenden Longplayer VORSTELLUNGSKRAFT eindrucksvoll fortgesetzt. Die Zweifel, ob die Band das Niveau trotz des Weggangs von Gitarrist und Bandgründer Oliver Scheib halten kann, werden nach wenigen Sekunden des Openers „Old youth“ förmlich weggeblasen. Was besonders auffällt ist, dass die musikalischen Einflüsse auf VORSTELLUNGSKRAFT sehr vielfältig sind. So erinnert der Beginn des zweiten Songs der Platte „Thrive and wither“ an alte Wave-Helden wie The Cure, was den Song überraschend frisch klingen lässt, gerade weil man derartige Einflüsse im HC eher selten hört. Mit dem ersten Teil des Doppelsongs „If you build it…“ „…they will come“ wiegen TTS den Hörer mit einem postrockigen Instrumental-Song in Sicherheit, bevor sie sich mit dem zweiten Teil „…they will come“ furios auf die Zielgrade dieses Brechers von Album begeben. Diese Zielgerade liefert mit „Fathomed“ einen weiteren großartigen Song, der vor dem Ausbruch von Sänger Nicolas erneut durch ein wavig-poppiges Intro besticht. Endet das Album nach 35 Minuten mit sehr sanften Klängen, so verspürt man das dringende Bedürfnis, die Repeat-Taste zu drücken und VORSTELLUNGSKRAFT wieder von vorne zu hören.
Die von FJØRT mit D’ACCORD recht hoch gelegte Latte überspringen The Tidal Sleep mit VORSTELLUNGSKRAFT um einige Zentimeter – ein Beleg dafür, dass 2014 ein verdammt starkes Jahr für HC bzw. Post-HC aus hiesigen Gefilden ist.
Ohr D’Oeuvre: Thrive and wither / If you build it… / …they will come / Fathomed
VÖ: 25.07.2014, This Charming Man Records (Cargo Records)
Tracklist:
01. Old youth
02. Thrive and wither
03. Angst
04. Flood dreams
05. Glass
06.If you build it…
07. …they will come
08. Fathomed
09. Smoke and mirrors
10. Twentyone
11. Lined skin, rotten hull
Gesamteindruck: 9 / 10