Nach einer – Bernd Begemann sei Dank – kurzen Nacht, ist es an den Deutschpunk-Jünglingen Heisskalt, dem Publikum den Sandmann aus den Augen zu pusten. Ja, Sie lesen richtig – Deutschpunk auf dem Haldern Pop! Ein weiterer Beleg, dass seitens des Programms auch nach 32 Jahren große Offenheit am Niederrhein herrscht. Ihrer Aufgabe, den Weckdienst für das noch leicht schlaftrunkene Publikum zu übernehmen, kommen Heisskalt mit Bravour nach. Dass Deutschpunk mehr sein kann als maximal drei Akkorde und sich zigfach wiederholdes OiOiOi, zeigen die Jungs auf beeindruckende Art und Weise. Die Dynamik und Vielfalt, mit der sich die sympathischen Schwaben durch ihr Set prügeln, wird auf dem gut gefüllten Reitplatz erstaunlich positiv aufgenommen. Ein so nicht erwarteter, absoluter Höhepunkt des gesamten Festivals. Bleibt zu hoffen, dass das Haldern Pop diese positive Resonanz aufnimmt und auch in den nächsten Jahren Bands aus diesem Genre eine Chance gibt.
Dass The Bronze Medal am Samstagmorgen in der Haldern Pop Bar spielen sollten, verwunderte bei Bekanntgabe des Timetables doch ein wenig. Teilten doch nicht wenige die Einschätzung, dass es sich bei den Briten um eine dieser Bands handeln könnte, die nach dem Haldern ihren großen Durchbruch feiern werden. Da ist die Erleichterung groß, als aufgrund der Verschiebung von Bernd Begemanns Auftritt, The Bronze Medal kurzfristig ins Spiegelzelt verlegt wird.
Ja, es gibt sie, diese Bands, bei denen sich recht schnell das Gefühl einstellt, gerade etwas Besonderes zu sehen. Eine davon ist The Bronze Medal, die an bestimmten Stellen immer den richtigen Weg in ihren Songs geht – den Weg, bei dem es dem Zuhörer kalt den Rücken herunterläuft. Dieses Talent hat auch das Haldern Team erkannt und The Bronze Medal für ihr kommendes Album mit einem Vertrag beim Haldern Pop Label ausgestattet.
Im Anschluss an The Bronze Medal spielt Marcus Wiebusch einen seiner – nach eigener Aussage – letzten Auftritte seiner Solo Karriere. Dabei hat man irgendwie das Gefühl, Wiebusch ist mit sich im Reinen und genießt das, was er da macht, auf ganzer Linie. Wirkte er zuletzt mit seiner Hauptband Kettcar ein wenig müde, spielt er auf dem Reitplatz mit einer Leichtigkeit, dass es eine Freude ist, ihm dabei zuzusehen. Dabei begeistert er das Publikum der „alten Lady Haldern“ mit dem um eine Strophe erweiterten Kettcar-Klassiker „Balkon gegenüber“ und mit seinem mehr als achtminütigen Statement gegen Homophobie „Der Tag wird kommen“. Sowohl bei den Ansagen, die nahezu immer mit dem Wiebusch-typischen „Und das geht so…“ enden, wirkt das alles so erfrischend unbeholfen, dass man nicht drumherum kommt, unentwegt an den tapsigen Tanzbär aus Kettcars „Balu“ zu denken. Ein großartiger Auftritt eines großartigen Künstlers, der eindrucksvoll zeigt, dass es keine Attitüde braucht, um gesellschaftspolitisch wichtige Themen in gute Musik zu verpacken.
Was wäre das Haldern Festival ohne klassischen Indie Folk? Genau den haben Family of the Year aus Kalifornien mit an den Niederrhein gebracht. Das passt hervorragend zum (noch) sonnigen Samstagmittag, auch wenn die Songs auf Dauer etwas belanglos wirken. Beim aus dem Film Boyhood bekannten Hit „Hero“ tanzt und singt der ganze Reitplatz, wohl ahnend, dass der sonnige Teil des Festivals mit dem Auftritt der Family of the Year Geschichte sein wird.
Hatte Petrus das Festival bis zu diesem Zeitpunkt weitestgehend mit Regen verschont, öffnet er im Anschluss sämtliche Schleusen. Innerhalb kürzester Zeit steht der hintere Teil des Reitplatzes knöcheltief unter Wasser und der vordere Bereich gleicht einer Schlammwüste. Leidtragende des Sauwetters sind The Slow Show aus Manchester. Angekündigt mit dem Stargaze Orchester und dem Cantus Domus Chor ist der Platz zu Beginn ihres Auftritts leider nur zur Hälfte gefüllt. Die Hoffnung derjenigen, die auf dem Campingplatz verzweifelt auf eine Regenpause warten, dass der Auftritt eventuell verspätet beginnt, erfüllt sich nicht, so dass viele den größten Teil verpassen. Dies ist umso bedauerlicher, denn das Konzert zeigt erneut die Extraklasse der Band um Sänger Rob Goodwin. Ein Publikum unter diesen Bedingungen derart zu fesseln, das schaffen nur die wenigsten Bands. Und als vor „Bloodline“ der Regen ein wenig nachlässt, entlädt sich beim Publikum die Freude darüber in Form von wildem Hüpfen, Tanzen und Singen. Rob Goodwin ist die Verzückung in jeder Sekunde anzusehen, so dass der Auftritt spätestens mit dem siebenminütigen „Bloodline“ zu einem der besten des gesamten Wochenendes zu zählen ist.
Ein Heimspiel hat nach The Slow Show die Folk-Pop-Klassenfahrt Tour of Tours. Nach seinem umjubelten Auftritt im vergangenen Jahr kommt Stefan Honig mit seinen Freunden von Towns of Saint, Tim Neuhaus, Ian Fisher und Jonas David zurück an den Niederrhein, um mit den Festivalbesuchern ein großes Folkfest zu feiern. Dabei ist die Party vor der Leinwand sogar ungleich größer als die im Spiegelzelt selbst. Besonders bei „The Song of Songs“ und Stefan Honigs „Golden Circle“ gibt es im und vor dem Zelt kein Halten mehr. Die Band tanzt, das Publikum tanzt und für einen Moment ist das fürchterliche Wetter vergessen.
Für viele, gerade ältere Semester sind die anschließenden dEUS auf der Hauptbühne der heimliche Headliner des Festivals. Wer die Band von Tom Barman in ihrer 26jährigen(!) Schaffenszeit live erlebt hat, weiß, dass das Gelingen des Auftritts nicht unwesentlich von der Lust und Laune Barmans abhängt. Diese scheint an diesem verregneten Abend ganz ausgezeichnet zu sein. Die Song-Auswahl, die für Haldern-Verhältnisse opulente Lichtshow, der Sound und das alles gepaart mit einem euphorisierten Publikum bilden an diesem Abend die Grundlage für ein großartiges Konzert, das mit „Suds & Soda“ seinen Höhepunkt erreicht und selbst die jüngeren Festivalgänger begeistert zurücklässt.
Das 32. Haldern Pop Festival hat wieder einmal bewiesen, dass Mut beim Booking, eine hervorragende Organisation und ein tolles Publikum die Grundlage für das Gelingen eines außergewöhnlichen Festivals fernab von den Kirmes-Großveranstaltungen im Frühsommer ist.
Wer immer noch mit den Post-Festival-Depressionen zu kämpfen hat, für den hat das Haldern Pop Team eine gute Nachricht. Man braucht nicht bis zum zweiten Wochenende im August 2016 warten, um das Haldern-Gefühl aufzufrischen. Vom 15.-17. Oktober 2015 findet erstmalig die kleine Schwester des Haldern Festivals, das Kaltern Pop Festival, in Kaltern am See in Südtirol statt. Hierbei steht neben der Musik die kulinarische Vielfalt dieser wunderschönen Region mit dem wärmsten Badesee der Alpen im Vordergrund.
Kaltern Pop Festival
15.-17.10.2016 Kaltern am See /bei Bozen
Bestätigte Künstler:
Sophie Hunger, The Slow Show, Wanda, Loney Dear, All The Luck In The World und Sean Noonan u.a.