Roosevelt – Roosevelt
Eigentlich stellte Marius Lauber aka Roosevelt seine Tracks nur zum Spaß ins Netz. Das daraus geborene, selbst betitelte Debüt ROOSEVELT, dürfte eine der Platten 2016 werden, die den Zeitgeist zum Tanzen bringt.
Marius Lauber spielte früher bei den viel zu kurz existierenden Beat!Beat!Beat!. Die vier Niederrheiner brachten eine Lässigkeit und Tanzbarkeit in die deutsche Indieszene, die man bis dato nur von britischen oder schwedischen Bands kannte. Die Kombination scheint Lauber in seine musikalische DNA übergegangen zu sein. Seine Discohousetracks vereinen die zurückhaltenden Indieelectronica von Hot Chip mit der Lässigkeit der frühen Metronomy, spannen den Bogen von britischer 1980er Jahre Popmusik zum Diskosound der 1970er. Der entspannt bis entrückte Gesang steht im Kontrast zu den unterlegten Beats und den Retrosynthies. Tracks wie die epische Single „Colours“ oder das schmissige „Night Moves“, vereinen ein Understatement und eine gleichzeitige Dringlichkeit ineinander, die sowohl die Indiedisco als auch den Technotempel zum kochen bringen dürfte. Roosevelt, der nach seiner Zeit bei Beat!Beat!Beat! lange als House DJ aufgelegt hat, vereint das Beste aus beiden Welten wie es sonst vielleicht noch Fuck Art, let’s Dance! oder Drangsal in Deutschland derzeit gelingt. An einigen Stellen übertreibt es Lauber mit den Retro Sounds wie in „Close“ oder „Belong“. Aber das trübt de Gesamteindruck eher minimal. Roosevelt dürfte auf Schultern durch das Jahr getragen werden.
VÖ: 19.August 2016, City Slang, http://www.iamroosevelt.com/
Ohr d’Oeuvre: Moving on/ Night Moves / Colours
Gesamteindruck: 7,5/10
Tracklist: Intro/ Wait up/ Night moves/ Belong/ Moving on/ Heart/ Colours/ Sea/ Daytona/ Fever/ Hold on/ Close
Japanische Kampfhörspiele – The Golden Anthropocene
Den Namen „Japanische Kampfhörspiele“ kennt fast jeder. Allerdings wissen die Wenigsten, was mit der Musik anzufangen. Nach 18 Bandjahren liegt mit THE GOLDEN ANTHROPOCENE das erste, studioproduzierte Album vor. Dies bringt den vielfältigen Ansatz der Band zwischen Dada, Desillusion und den Drei ??? erst richtig zur Geltung.
Wie, du bist nicht bei Facebook?
Wie, du bist nicht tätowiert?
Wie kann man nur so anti sein?
Reih dich mal ein!
(aus Antisein)
THE GOLDEN ANTHROPOCENE ist ein Abgesang auf die schizophrenen Auswüchse des digitalen Alltags und ein Beschreien der Apokalypse. Diese dürfte selten so schwer im Magen gelegen haben wie in dem sechs Minuten Brocken „Tag 1 nach den Menschen“. Ein wenig als würden Gabi Delgado und „Mille“ im Wechselgesang einen Dada – Trip von Jonathan Meese vertonen. Musikalisch bleiben die Krefelder ihrer wuchtigen Linie zwischen Hardcore, Punk, Grind – und Speedmetal treu. Die Handvoll Songs, welche die drei Minuten Grenze überschreiten, vereinen in einer kompromisslosen Krachorgie Breaks, Tempowechsel und abseitige Einfälle, wie den Riff in „Durchschnittsmensch“, der über einen Telefonton gelegt wird. Durch die eingespielten Hörspielfetzen erhält das Ganze einen regelrechten Collagencharakter. Das Alleinstellungsmerkmal bleiben jedoch die Texte, die sich als ziemlich reflektiertes, desillusioniertes Abarbeiten an der Rolle des Individuums im Zwiespalt zwischen digitaler Selbstverwirklichung und dem alltäglichen, gesellschaftlichen Funktionieren entpuppen. Die Produktion, erstmals nach „westlichem Standard“ (Eigenaussage), befördert glücklicherweise die Verständlichkeit der Texte und die Dynamik der Songs. Angeblich wurde die Platte erstmals vollständig im Studio eingespielt und auf einer Müllkippe abgemischt. Die Wahrheit oder der bandeigene Humor? Wer will das schon so genau wissen. Die Platte ist der richtige Soundtrack, um am Ende der Arbeitswoche das Hirnchaos adäquat zu vertreiben.
VÖ: 2.September 2016, Unundeux (Cargo), http://www.japanischekampfhoerspiele.de/
Ohr d’Oeuvre:Planeten planieren/ Tag 1 nach den Menschen/ Posthumane Weltregierung
Gesamteindruck: 7,0/10
Tracklist: Verklappt/ Weiss/ Planeten Planieren/ Antisein/ Ping/ Posthumane Weltregierung/ Reiz-Reaktion-Automat/ Der Untergrund/ Folter und gezieltes töten/ Pimmel kneten/ Tellerrand (feat. Junge of EA 80)/ Mitmachdiktatur/ Burnout ausgesessen/ Absolution in spe/ Der Durchschnittsmensch/ Smart/ Weltorganismus/ Tag 1 nach dem Menschen (feat. Christian Markwald of Diaroe)/ Aus dem Markt der Nebenniere 2016/ Verpasst (Bonus Track)
Ed Harcourt – Furnaces
Mit seinem neunten Album FURNACES läutet Ed Harcourt das Ende des Sommers ein und gibt zugleich eine Überlebenshilfe für die kommende, dunkle Jahreszeit.
Zugegeben, bewusst wahrgenommen hatte man Ed Harcourt nur bei seinem Auftritt in Haldern 2014. In Begleitung von Stargaze spielte er Donnerstags in der Kirche und hinterließ ein Gänsehautfeeling. Wie es leider manchmal passiert, verlor man sich danach aus den Augen….
…..um sich mit seinem neuen Album FURNACES wieder zu begegnen. In Erinnerung an seine Show beim Lieblingsniederrheinfestival stellte sich wieder das Gänsehautfeeling von damals ein und automatisch baute sich eine wahnsinnige Spannung vor dem ersten Anspielen seiner neuen Veröffentlichung auf.
Und am Ende wurde diese Erwartung zum Glück bestätigt und das Schicksal des seit Tinder populären Wegwischens bleibt der Platte definitiv erspart. Besticht das Album doch durchgängig durch ein- und zugängige Popperlen, die irgendwie schon Vorboten für die dunkle Jahreszeit zu sein scheinen. Nach dem Intro, gibt „The World is on fire“ einen Ausblick auf die melancholische Stimmung, die sich wie ein grauer Faden durch FURNACES zieht. Diese Form von Grundmelancholie sticht aus jedem Song hervor, so dass sich automatisch die Flasche Barrique Rioja als der passende Begleiter für diese Atmosphäre aufdrängt, die das Album verbreitet. Die Platte wird ebenso im Herbst, an dunklen, regnerischen Abenden wie bei langen nächtlichen Autofahrten eine Trumpfkarte sein. Die Highlights, die man in solchen Stimmungen immer wieder hervor holen kann, sind ganz klar „Occupational Hazard“, „Dionysius“ und „Immoral Ghetto“. Es bleibt nur die Empfehlung: „Jetzt anhören!“, um mit größter Vorfreude für die Zeit des Jahreswechsel gewappnet zu sein. Lohnt sich!
VÖ: 19.August 2016, Polydor / Caroline, http://www.edharcourt.com/
Ohr d’Oeuvre: Occupational Hazard/ Dionysus/ Immoral Ghetto
Gesamteindruck: 7,0/10
Tracklist: Intro/ The world is on fire/ Loup Garou/ Furnaces/ Occupational heart/ Nothing but a trip/ You give me more than love/ Dionysus/ There is a light below/ The last of your kind/ Immoral Ghetto / Antarctica
Apologies, I Have None – Pharmacie
Wie verkraftet man den plötzlichen Weggang zweier Bandmitglieder in einer Phase, in der der Durchbruch nur noch eine Frage der Zeit zu sein scheint. Die Ostlondoner von Apologies, I Have None (AIHN) geben die Antwort auf ihrem zweiten Album PHARMACIE in beeindruckender Art und Weise.
Wir schreiben das Jahr 2012. Nach einigen EP’s veröffentlichen AIHN mit LONDON ihr sehnlichst erwartetes erstes Album und sorgen mit ihrem „Heartcore“ für wahre Begeisterungsstürme. Frischer und eingängiger hat diese Musikrichtung lange nicht mehr geklungen. Nach ausgiebigem Touren folgt Anfang 2014 der zu dem Zeitpunkt völlig überraschende Ausstieg von Sänger Dan Bond. Die Band schüttelt sich kurz und beschließt weiterzumachen. Die im Mai 2014 erschienene EP BLACK EVERYTHING zeigt, wo der Weg hingehen wird. Die Unbedarftheit ist vorbei, das Ungestüme weicht einer nachdenklichen Schwere – eine Facette, die der Band überraschender Weise sehr gut steht. Gerade vom Ausstieg Bonds erholt, gibt Bassist PJ Shepherd im Sommer 2014 ebenfalls seinen Ausstieg bekannt. Ein weiterer schwerer Rückschlag für AIHN und vor allem für Songwriter Josh McKenzie. Man ist sich fast sicher, dass die Band diesen erneuten Rückschlag kaum verkraften kann. Es wird ruhig um AIHN. Im Frühjahr dieses Jahres kommt ein erstes Lebenszeichen in Form einer Split EP mit Luca Brasi. Es wird deutlich, dass McKenzie seine Dämonen mit Hilfe der Musik zu überwinden versucht. Getragen von einer tiefen Melancholie, steht inzwischen vielmehr das „Heart“ als das „Core“ im Mittelpunkt der Songs. Auf ihrem zweiten Longplayer PHARMACIE führen sie diesen Weg konsequent fort. Betrachtet man die Lyrics der Platte, bekommt man einen beängstigenden Eindruck, wie es um das Seelenleben McKenzies stehen muss. Untermalt wird dies alles von teils atemberaubenden Post Rock Ausflügen, wie sie Caspian oder Explosions in the Sky nicht besser hinbekommen hätten. Das neue Album von Aplogies, I Have None lässt den Hörer mit einem gewaltigen Kloß im Hals und der Gewissheit zurück, dass genau diese Songs auf PHARMACIE der einzig richtige Weg sind, die Rückschläge und Enttäuschungen der Band zu verarbeiten. Selten hat einen ein Album derart aufgewühlt zurückgelassen. Und ist es nicht genau das, was Musik mit einem anstellen sollte?
VÖ: 26.August 2016, Uncle M, Holy Roar, http://www.apologiesihavenone.co.uk/
Ohr d’Oeuvre: Killers/ A Pharmacy in Paris/ Crooked Teeth
Gesamteindruck: 8,5/10
Tracklist: Love & Medication/ Wraith/ The Clarity of Morning/ Anything Chemical/ Goodbye, Peace of Mind/ Crooked Teeth/ Everybody Wants To Talk About Mental Health/ It’s Never The Words You Say/ Killers/ A Pharmacy In Paris