Nicolas Sturm – Angst Angst Overkill
Auf seinem zweiten Album ANGST ANGST OVERKILL outet sich Nicolas Sturm als Vorsitzender des deutschen MOZ Chapters. Ein Pop-Juwel voll mit Melodie, Größenwahn und German Angst.
Hedonismus kann sich in den verschiedensten Formen ausdrücken. In nervtötender Großkotzigkeit oder in ebenso nervendem Suhlen in Selbstmitleid und Weltschmerz. Und dann gibt es noch einen Mittelweg zwischen beidem, der eine ganz eigene Faszination ausüben kann. Morrissey oder Ja Panik! im deutschsprachigen Raum sind so Beispiele, Trümmer bleiben in der Pose stecken. Nicolas Sturm – ähnlich wie Isolation Berlin – scheint diese Haltung mit der Babymilch aufgesaugt zu haben. Zu britisch angehauchter 1980er Wavemusik im Stile der Smiths und der frühen Cure stimmt er den Abgesang auf die deutsche Spießigkeit und das technokratische Regime („Im Land der Frühaufsteher“) an. Er wirkt befremdet und angewidert von diesen Menschen ums sich herum, die keine Bedürfnisse zu haben scheinen, als ihre Pflicht zu erfüllen. Zugleich ist da in jedem zweiten Lied der Wunsch zu spüren, in den Arm genommen zu werden, bevor man vor der eigenen Angst und der eigenen Ratlosigkeit zusammenzuknicken droht. Im Grunde ist das ganze Album eine Vertonung der Rat- und Rastloisgkeit, die die Popmusik schon seit Dekaden umtreibt und doch niemals langweilt. Wieviel darf und muss ich vom Leben einfordern, kann man dem System trauen, kann man letztendlich demjenigen trauen, in dessen Armen man gerade einschläft? Musikalisch könnte es sich um die Arbeit einer Smith – Coverband handeln, so scheint „Das Ende“ die deutsche Adaption von „Every Day like Sunday“ zu sein, imiitiert Sturm den Morrisseyischen Nuscheltonfall in „Lichtjahre“ perfekt. Wunderbar pathosgeladener Gitarrenpop mit hymnischen Synthies und dem notwendigen Patinaüberstrich. Gegen Ende nerven die gezogenen Lyrics ein wenig und das es in der pathosgeladenen Seeligkeit so gar keine Spitze, keine Kante mehr gibt. Manchmal wirken die Reime auch etwas rumpelig und die Synthies etwas zu erdrückend. Aber das kann den Eindruck nicht trüben. Für die Smiths – Fans, die deutschen Lyrics nicht abgeneigt sind und die es vorziehen den Angestellten und Kollegen statt einem „Guten Morgen“ einen verächtlichen Blick für ihr stupides Automatendasein zuzuwerfen, dürfte ANGST ANGST OVERKILL das Album des Jahres sein.
VÖ: 21.10.2016, Staatsakt/ Caroline International, http://nicolassturm.de/
Ohr d’Oeuvre: Lichtjahre/ Nach der Revolte/ Im Land der Frühaufsteher
Gesamteindruck: 8,0/10
Tracklist: Angst Angst OVerkill/ Lichtjahre/ Das Ende/ Im Land der Frühaufsteher/ Das Leben das Du führst/ Tanzen auf Ruinen/ Alaska/ Ich will alles (was ich sage auch so meine)/ Nach der Revolte/ Ich von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt
American Football – American Football
Wenn eine Band nach 17 Jahren ihr zweites Album veröffentlicht, werden schnell Fragen laut, ob den Musikern das Geld ausgegangen ist oder ob sie im Zweifel irgendwas von einem Hype Kuchen abbekommen wollen.
Beschäftigt man sich mit American Football, wird schnell klar, dass die Band weit davon entfernt ist, mit ihrem neuen, selbstbetitelten Album auf Geld oder Hype zu schielen. Vielmehr hat man nach der triumphalen Live Reunion 2014 festgestellt, dass der Spaß, welcher der Band Ende der 90’er Jahre abhandengekommen war, wieder da ist und dass ein wenig Abwechslung vom langweiligen Joballtag den gesetzteren Herren um Sänger Mike Kinsella guttun würde. Eine Einsicht, die dem ebenfalls in die Jahre gekommenen Fan des 90’er Jahre Mid West Emo das geschundene Herz hat höherschlagen lassen, wurde American Football doch aus recht unerfindlichen Gründen während ihrer 15-jährigen Abwesenheit auf einmal zu Genregrößen hochstilisiert.
Von den Kritikern Ende der Neunziger zum Teil verrissen, fanden sich in der damals wie heute treuen Gemeinde des scheppernden Hornbrillen-Emos einige Anhänger der Band, die sich kaum etwas sehnlicher gewünscht haben als ein weiteres Album der Jungs aus Champaign-Urbana, Illinois. Auf diesem zeigen American Football, warum nicht wenige das neue Album kaum erwarten konnten. Völlig unaufgeregt schüttelt die Band neun Songperlen aus dem Ärmel. Dabei klingt sie manchmal wie Christiansen, manchmal wie Jimmy Eat World in ihren ruhigen CLARITY-Momenten und nicht selten wie Death Cab For Cutie zu TRANSATLANTICISM-Zeiten. Das Ganze, garniert mit der Stimme von Mike Kinsella, die einen das ein oder andere Mal an Jonah Matranga von Far/New End Original erinnert. Inhaltlich machen American Football nicht den Fehler, sich mit irgendwelchen Themen von jungen Erwachsenen zu beschäftigen, sondern legen den Fokus auf ihre Lebenswelt, die von vier gestandenen Enddreißigern mit festen Jobs und Familien handelt. Vielleicht ist es das, was dieses Album so ausgesprochen entspannt daherkommen lässt und vor allem der Grund, warum die inzwischen gesettelten Emo Kids der 90’er an dieser Platte so eine große Freude haben werden.
VÖ: 21.10.2016, Polyvinyl Records,
http://www.americanfootballmusic.com/
Ohr d’Oeuvre: Give Me the Gun/ Everyone Is Dressed Up/ Home Is Where the Haunt Is
Gesamteindruck: 7,0/10
Tracklist: Where Are We Now?/ My Instincts Are the Enemy/ Home Is Where the Haunt Is/ Born to Lose/ I’ve Been So Lost for So Long/ Give Me the Gun/ I Need a Drink (or Two or Three)/ Desire Gets in the Way/ Everyone Is Dressed Up
Helmet – Dead to the world
Sechs Jahre lang schienen Helmet DEAD TO THE WORLD zu sein. Ob sich im Falle des mittlerweile neunten Studiowerks um Frontmann Page Hamilton die Reanimierung nach sechs Jahren Pause gelohnt hat?
Auf der (in meinen Fall nicht besuchten) Journalistenschule oder wahlweise im Grundkurs Deutsch Klasse 7 lernt man, dass in einem Bericht die Beantwortung der sieben W-Fragen (wer was wo wann wie warum woher) zum entsprechenden Thema essenziell wichtig ist. Und trotzdem findet man gerade im Musikjournalismus immer wieder Plattenrezensionen, in denen diese Fragen nicht oder nur teilweise beantwortet werden.
Diese Kritiken beschäftigen sich dann in der Regel meist mit Klatsch und Tratsch der entsprechenden Band. Zum Beispiel, dass Helmet immer wieder von Besetzungswechseln geplagt waren und sich unter anderem so bekannte Namen wie Frank Bello (Anthrax) oder John Tempesta (Testament / White Zombie) dabei die Türklinke in die Hand gaben.
Der gemeine Schreiberling kann aber auch über Heldentaten vergangener Tage ins Schwärmen geraten und sich so vielleicht an den Meilensteinen MEANTIME oder BETTY abarbeiten, nicht ohne anzumerken, dass AFTERTASTE zu Unrecht verkannt wurde.
Oder man beschäftigt sich mit dem Einfluss der Band auf nachfolgende Künstler und Musikstile. So wie etwa das neue „Look Alive“ stark an die aktuellen Deftones erinnert, deren Frontman Chino Moreno allerdings seine Band ganz klar von der Musik der New Yorker Grammy-Kandidaten beeinflusst sieht.
Ganz arg wird es dann, wenn bis zum Ende des Artikels nicht ein einziges Wort zur tatsächlichen Musik des vorliegenden Albums gefallen ist. Um selbst nicht in diese Falle zu tappen, sei erwähnt, dass man im Falle von Helmets neuem Album DEAD TO THE WORLD beruhigt feststellen kann, dass.
VÖ: 28. Oktober 2016, Earmusic, Edel, http://www.helmetmusic.com/
Ohr d’Oeuvre: Red Scare
Gesamteindruck: 8,0/10
Tracklist: Life Or Death / I ♥ My Guru / Bad News / Red Scare / Dead To The World / Green Shirt / Expect The World / Die Alone / Drunk In The Afternoon / Look Alive / Life Or Death (Slow)
Nada Surf – Helden des College-Indie aus den Staaten, Schöpfer der 90er Jahre Hymne „Popular“ und eingängiger Indie-Rock-Pop-Alben – sind eine exzellente Live-Band. So kündigten sie kein halbes Jahr nach dem 7. Studioalbum YOU KNOW WHO YOU ARE mit PEACEFUL GHOSTS eine erneute Veröffentlichung an. Mit dem Filmorchester Babelsberg spielte die Band im Frühsommer in Potsdam ein Live-Album ein.
Diese bergen immer eine Gefahr, dass die Konzertatmosphäre nur schwierig für die Nachwelt auf einem Tonträger festgehalten werden kann. Mit den beiden Live-Mitschnitten LIVE IN BRUXELLES und LIVE AT THE NEPTUNE THEATRE, hat die Band aber bereits bewiesen, dass sie es kann.
Um eines vorweg zu nehmen – die Stücke auf PEACEFUL GHOSTS sind perfekt arrangiert. Die Band nimmt sich bei vielen Songs zurück und spielt diese ruhiger als auf den Studioalben, um dem Filmorchester mehr Raum und den Songs einen anderen Charakter zu geben. Matthew Caws und seine Mitstreiter legen bei der Auswahl der Stücke den Fokus auf das letzte Album, nur einzeln ergänzt durch ältere Stücke.
Bei dem Konzertmitschnitt stechen gerade diese hervor. Zuerst sind hier „Blizzard of 77“ und „Blonde on Blonde“ anzuführen. Das neue Gewand steht den Songs ausgezeichnet. Sie wirken durch die klassische Instrumentierung sehr sphärisch und ruhig, nehmen den Zuhörer aber nicht weniger ein als die Studioversion. Matthew Caws Gesang steht mehr im Mittelpunkt als auf den Studioalben und füllt die Stücke mit einer höheren Präsenz. „The fox“ bringt den Druck des Stücks vom Studioalbum auch im Zusammenspiel mit dem Filmorchester rüber. Es überrascht immer wieder, welche Dynamik sich bei der Zusammenarbeit einer populären Band mit einem Orchester ergibt.
Das Album ist für den eingefleischten Nada-Surf-Hörer uneingeschränkt ein „must have“. Neulingen sei empfohlen, mit LET GO oder LUCKY einzusteigen, ein Konzert der Band im Herbst zu besuchen, sich einzuhören und im Anschluss die besprochene Scheibe anzuschaffen.
VÖ: 28.Oktober 2016, City Slang, http:
Ohr d’Oeuvre: Blizzard of 77/ The fox/ Blonde on Blonde
Gesamteindruck: 6,5/10
Tracklist: Comes a Time/ Believe You´re Mine/ Beautiful Beat/ Blizzard of 77/ Rushing/ The Fox/ Blonde on Blonde/ 80 Windows/ Inside of Love/ Out Of The Dark/ When I Was Young/ Animal/ You´re Lightning