Lauter Bäumen – Mieser in den Miesen
Lauter Bäumen sind ein wenig wie der fliegende Holländer. Alle kennen den Namen, kaum einer hat sie je gesehen, tauchen sie dann doch auf, hinterlassen sie offene Münder, Staunen und dieses wohlige Gefühl 12 Runden gegen Tim Wiese im Ring überstanden zu haben und zugleich noch die Nebenkostenabrechnung bezahlen zu können. Mit MIESER IN DEN MIESEN legen sie ein rotziges Durchhaltealbum vor, das ein erstes deutschsprachiges Indie-Highlight des noch frischen Jahres ist.
Man kennt so Abende. Alle sind entspannt, jeder die ganze Zeit am hyperventilieren – “Nein! Toll! Klingt phänomenal!“. Die größt mögliche Ablehnung, die man bekommt ist ein dahin gerotztes “Okay, okay!”, und alle sonnen sich in einer maximalen Selbstzufriedenheit und dämmern dem Bett entgegen. Dann gibt es einen Menschen, der einem auf den Kopf zusagt „Dein Job ist scheiße, dein Jackett lächerlich und deine Frisur hätte ich nicht mal zur Kommunion getragen!“. Im ersten Moment ist man baff, im zweiten aggressiv und dann entwickeln sich meistens die Gespräche, die einen nach vorne bringen und von denen man noch lange etwas hat. Lange Rede, kurzer Sinn, MIESER IN DEN MIESEN von Lauter Bäumen ist genau so eine Platte. Sie nimmt einen nicht in den Arm, sondern schreit einem erst mal nassfeucht ins Gesicht. Eine Vertonung der Desillusion, die einen ständig begleitet, ein Soundtrack gegen das Einrichten in der Komfortzone, die Untermalung zum Aufstehen, Zähne richten und Weitermachen.
Musikalisch ein Erbe der ausmäandrierenden Hamburger Schule, transferieren sie den Sound in ein modernes Gewand. Dazu tragen vor allem die Synthie- und Pianomelodien bei, die den Songs diese gewisse Zeitlosigkeit geben, die sie auch noch in drei Jahren hörenswert machen. Textlich werden die Geschichten vom Heimkommen in der Frühe erzählt, wie im wunderschönen Track „Positionslicht“. Verlierergeschichten werden vertont ohne sich lange mit dem Verlieren aufzuhalten, sondern bestechen eher damit, dass man trotz aller Widerstände nicht aufgegeben hat, wie im Trinkerstück „Hans“. Dabei ist die Stimme keine, die man im ersten Moment mit ins Bett nehmen will, sondern eine, die man aufgrund ihres Charakters und ihrer beständigen Angriffslust nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Ein, zwei Hänger in der Mitte verhindern vielleicht eine absolute Topnote, aber MIESER IN DEN MIESEN wird 2017 das Album für die frühen Morgenstunden sein, wenn das Bett ruft, dieser Ruf verklingt und man sich lieber im fahlen Morgenlicht sonnt.
VÖ: 24.02.2017, Tumbletweed Records, Lauter Bäumen
Ohr d’Oeuvre: Positionslicht/ Leicht sein/ Streichel die Katze
Gesamteindruck: 8,5/10
Tracklist: Bessere Zeiten klingen gut/ Streichel die Katze/ Teil Deiner Liebe/ Namen und Fotos/ Sieh her, Sieh her/ Überall, nur Vornamen/ Holzbein/ Positionslicht/ Leicht sein/ Zu einfach/ Hans/ Mieser in den Miesen
(pd)
Dirk Darmstädter – Twenty
Seit etwas über 30 Jahren ist Dirk Darmstädter in der Musikszene präsent. Er prägte sie mit seiner Band „The Jeremy Days“, als einer der beiden führenden Köpfe des kleinen, feinen Tapete-Labels und seit 20 Jahren mit seinen Soloalben. Mit TWENTY veröffentlicht er nun eine Werkschau, welche seine 13 Alben zusammenfasst.
Werkschauen oder Best-of-Alben, wie auch immer Zusammenstellungen dieser Art genannt werden, haben durchaus einen ambivalenten Charakter. Künstler nutzen Sie entweder als Möglichkeit, um bestehende Verträge zu erfüllen bzw. noch einmal Geld nach dem Motto Alter Wein in neuen Schläuchen zu verdienen, oder verschaffen dem interessierten Hörer, der den Künstler nicht so genau verfolgt hat, eine umfassende Übersicht. Bei TWENTY trifft letzteres zu und es überzeugt auf ganzer Linie. Durch das Album verschafft sich der Hörer einen sehr homogenen Überblick über die Songs von Dirk Darmstädter, die er in den letzten 20 Jahren veröffentlicht hat.
Seine Lieder lassen sich am passendsten als melancholisch-melodische Indiepopsongs mit wunderbaren Arrangements charakterisieren. Die musikalische Basis bilden Gitarre, Bass und Schlagzeug, die von Streichern, Bläsern und Tasteninstrumenten ergänzt werden. Abhängig von der Schaffensphase, in denen Darmstädter die Stücke geschrieben hat, fließen sowohl Country- als auch Rock-Elemente in die Songs ein. Drei Songs sind auf TWENTY hervorzuheben. „Top oft he world “ ist eine Popperle mit einem eingängigen Refrain, der direkt mit gesummt wird. „Fred Astaire“ ist ein Duett aus seiner Arbeit in dem Projekt Me an Cassity. Es skizziert Sequenzen der Beziehung eines Paares in einem melancholischen Rahmen. „Stupid World“ ist ebenso aus dieser Projektarbeit. Es ist ein charmantes Indierockstück, bei dem Darmstädter wiederum sein Talent für eingängige Refrains einbringt.
Das Album gibt dem Hörer einen feine Übersicht über die Arbeiten von Darmstädter und es lohnt sich sicherlich eines seiner Konzerte in diesem Frühjahr zu besuchen. Es ist davon auszugehen, dass TWENTY live einen noch intensiveren Eindruck beim Hörer erweckt. Das Sahnehäubchen bei der Tournee dürfte sein, dass die Konzerte durchweg in kleinen Lokalitäten stattfinden………
VÖ: 10. Februar 2017, Eigenproduktion, https://meandcassity.bandcamp.com/album/twenty-twenty-20-years-20-songs-a-collection
Ohr d’Oeuvre: Top of the world/ Fred Astaire/ Stupid world
Gesamteindruck: 7/10
Tracklist: Sonny and Cher/ We Beat The Drum/ Top of the world/ Pop Guitars/ King of Trash/ The hall life/ 1989 forever/ Fred Astaire/ Walking with your shoes tied together/ The last days of summer/ Stupid world/ Five Years/ Number one single/ The last troubadour/ My girl in Paris/ I won´t give up on you/ We are there/ All summer long/ Lear nto love what´s killing me/ Someone to take me home
(kof)