Zwei leidenschaftliche Musikertypen! Eine Idee! Ein kräftiger Mann in Bademantel und Pantoffeln. Ein Dandy in Cordhose und Sakko. Ein Piano. Filmsequenzen. Ein Stringquartett. Tanzeinlagen. Illusionen. Hotelzimmer und Filme. Fantasiewelten. Am Ende geht das Licht an und man checkt aus, zurück in die Wirklichkeit. Dazwischen: zahllose Geschichten. Alles das ist ROOM29. Und noch so viel mehr.
Der Mann im Bademantel ist kein geringerer als Chilly Gonzales, begnadeter Pianist und Komponist, sein Partner im Hotelzimmer, der ebenfalls begnadete Jarvis Cocker, Sänger der Band PULP, BBC Radiomoderator und Songschreiber. Zusammen haben sie diesen „Liedzyklus“ aus der Sicht des Pianos und eines Hotelgastes, über die Geschichten aus ROOM29, des berühmt-berüchtigten Hollywood-Hotels Chateau Marmont geschrieben.
Check-In ist kurz nach 20 Uhr. Jeder Gast bekommt seinen eigenen Schlüssel für das Zimmer 29 ausgehändigt und sucht sich seinen Platz im – an drei aufeinanderfolgenden Abenden ausverkauften – Internationalen Kulturzentrum Kampnagel in Hamburg. Wehte einem eben vor der Türe noch die typische Hamburger steife Brise um die Nase, empfängt einen hier sofort ein wohlig-nostalgisches Lüftchen aus der goldenen Ära der Traumfabrik Hollywoods. Etwa 880 Gäste beherbergt das zum Hotelzimmer umfunktionierte Kampnagel 6 am heutigen Abend. Vor einer Leinwand ist das spartanische Bühnenbild aufgebaut. Links ein Flügel, davor ein Schreibtischchen samt Stuhl, Telefon und Schirm-Lampe. Rechts ein Hotelbett mit Nachttisch.
Applaus begleitetet den Aufritt von Gonzales, der sich still ans Piano setzt. Dann eine kurze Filmsequenz: Cocker zieht seinen Trolly den Flur zur Suite im Marmont entlang, schließt auf, tritt ein und steht samt Trolly auf der Bühne, wo er – begleitet von den ersten Moll-Klängen von „Room29“ – ein paar Bücher auspackt. „Help yourself to pretzels, Help yourself to the Minibar…“ heisst er den Gast mit der ihm eigenen 2-Uhr-Nachts-Radiostimme im Zimmer willkommen. „Is there anything sadder than a hotel room that hasn´t been fucked in?“ appelliert er an die Vorstellungskraft.
Bevor es nach dem ersten Stück weitergeht, geben die beiden erstmal ein paar kleine Anekdoten ihrer eigenen Hotelaufenthalte zum Besten. „Tearjerker“ zeigt dann an, wie komplex und kunstformübergreifend dieser Abend werden wird. Wo schaut man hin und wann? Fläzt sich Cocker in persona aufs Bett im linken Teil der Bühne, liegt er gleichzeitig im Film auf der grossen Leinwand vor einer weiteren Leinwand, die wiederum seine Silhouette zeigt, die den im Film liegenden Jarvis ansingt, bevor sich die Filmszenerie auflöst und man auf der Leinwand Loie Fullers Serpentinentanz sieht, der zum Ende hin, engelsgleich und immer bunter wird.
Es sind die kleinen, abseitigen Geschichten, nicht die bekannten Boulevard Storys, die Cocker und Gonzales das Piano erzählen lassen. Eher unbekannte Dramen und Schicksale über Mark Twains Tochter Clara, den Flugpionier Howard Hughes oder die sehr unbefriedigend verlaufene Hochzeitsnacht von Gene Harlow und Filmproduzent Paul Bern, der sich gar zwei Monate später zuhause erschoss. Ein Schelm der nicht Böses denkt und hier Ereignisse verknüpft. „Diese Mann konnte nicht die Fähigkeit finden for gute Liebe zu machen. Diese Mann hatte einen Schwanzfehler. Und: es ist in F-Moll!“ kündigt Gonzales „Bombshell“ verschmitzt an. Zuvor ließen sich die beiden noch schnell das Hamburger Kaiser (String) Quartett und ein paar Drinks vom Roomservice auf die Bühne kommen. So verstärkt wird die Darbietung noch dichter und die Atmosphäre immer intimer. „Bellboy“ huldigt, filmisch und auch musikalisch in bester Laurel und Hardy-Manier dem Hotelangestellten und das Publikum darf – auf Cockers Zeichen – mit den erhaltenen Schlüsseln klimpernd einsteigen.
Kunstvoll und mit vielen, vielen kleinen in sich verwobenen Details geht es weiter. So performed Cocker, der als Kind im TV zwischen den Cowboys und Indianern spielen wollte „The Other Site“ durch einen auf der Bühne aufgestellten S/W Fernseher, aus dem Backstagebereich und findet danach nicht wieder heraus, um dann doch – gelotst vom Publikum – durch die teils überraschten Zuschauerreihen seinen Weg zurück zu nehmen.
Der Abend mündet furios in „Trick of the Light“. Auf der Bühne schwingt der zu Beginn im Film Serpentinen tanzende Engel unter Stroboskoplicht nun live seine Tuchflügel. Und Cocker singt dazu „A Magic Box – Upon which life leaves a stain – Which we can watch – Again and Again – You thaught us to kiss – thaught us so many things – Do you mind if I ask: When do we get to join in?“
Das letzte Stück von ROOM29 spielt auf dem Hollywood Boulevard, wo Cocker die Wahl hatte zwischen dem verstaubten, von der goldenen Vergangenheit zeugenden Restaurant Musso & Franks und einer angrenzenden Sportsbar mit zig Bildschirmen. „You must have learned a bit about me tonight, which one do you think did I choose?“ fragt der Brite lakonisch. Und das Publikum liegt richtig. Im Restaurant sitzend, sieht Cocker ein sehr altes Paar an sich vorbeikommen. Elegant und mit Stil, scheinbar direkt der Traumfabrik entsprungen und wohl die letzten Überbleibsel aus dieser anderen Zeit. Diese beiden bestellen sich alles auf einmal – „Ice cream as Main Course“. Und es wird klar, dass all das, der Überfluss, das „alles auf einmal haben wollen“ in einem Ort wie der Sportsbar nebenan münden musste, wo die Monitore mehr und wieder kleiner werden und nicht der Champagner fliesst, sondern Energydrinks mit Wodka, wo alles belang- und stillos erscheint. Die Illusion ist verloren gegangen. Wessen Fantasien wurden und werden hier noch gelebt? Das scheint die zentrale Frage des Abends zu sein.
Ein absolut gelungener und sehr intensiver Premierenabend von ROOM29, der noch lange nachwirkt, immer wieder kleine Erinnerungen an die Detailverliebtheit, die Perfektion wachruft. Den beiden Vollblutmusikern merkt man nun deutlich die Erleichterung an und zum Dank gibt es noch eine Zugabe. Frotzelnd wird „Hotel California“ vorgeschlagen und von Gonzales gar mehrmals kurz und humorvoll am Piano angeteasert. Aber weit gefehlt. Abgeschlossen wird dieser grandiose Abend mit Leonard Cohens „Chelsea Hotel“.
Premiere: 17. März 2017, Kampnagel (Hamburg), http://www.kampnagel.de/
VÖ des zugehörigen Albums ROOM29: 17.März 2017, Deutsche Grammophon, www.facebook.com/events/, www.room29.tv
Ohr d’Oeuvre: Room 29/ Ice Cream As Main Course/ The Other Side/ Tearjerker
Tracklist des Albums: Room 29/ Marmont Overture/ Tearjerker/ Interlude 1 – Hotel Stationery/ Clara/ Bombshell/ Belle Boy/ Howard Hughes Under the Microscope/ Salome/ Interlude 2 – 5 Hours A Day/ Daddy, You’re Not Watching Me/ The Other Side/ The Tearjerker Returns/ A Trick of the Light/ Room 29 (Reprise)/ Ice Cream As Main Course