LIRR – god’s on our side; welcome to the jungle
Es gibt sie zum Glück, diese Überraschungen, diesen Moment, in dem du etwas anderes erwartest, aber das was du bekommst mindestens genauso gut oder gar besser ist. Das Grand Hotel van Cleef hat wieder einmal nach FJØRT, Escapado oder Adam Angst ein feines Gespür für diese besonderen Acts bewiesen, als sie auch LIRR unter Vertrag genommen haben.
Nach ihrer 2016er Debut (Konzept) EP RITUAL auf Through Love Records, dem Label des Bandentdeckers Paul Schuldt, wurde man auch im Hause van Cleef auf LIRR aus Kiel aufmerksam. Schon diese erste EP deutete nicht nur an, welches enorme Potential die vier und seit Anfang 2017 – um Mats Groth von Wind und Farben ergänzt – nun fünf norddeutschen Jungs frei zu legen im Stande sind. Und so war es nur logisch, dass ein Label wie GHvC aufmerksam hinhören würde.
GOD’S ON OUR SIDE; WELCOME TO THE JUNGLE ist auch wieder eine Konzeptplatte. Die Klammer für die 11 Songs auf 28 Minuten Spielzeit ist Jemand, der im Dschungel aufwacht, dort einen goldenen Puma trifft und von diesem durchs Dickicht geführt wird. Ich musste spontan an TARKUS von Emmerson Lake und Palmer denken, aber eher aufgrund von Kindheitserinnerung – egal, weiter. Die Songs sind dann so unterschiedlich in ihrer Struktur und Herkunft, dass man zwischendurch denkt irgendwer hätte die Platte gewechselt. Und trotzdem gibt es diesen roten Faden und der heisst schlicht LIRR. Es ist vor allem der Spass am Musik machen – im Fussball würde man sagen – eine eingeschworene, funktionierende Einheit aus unterschiedlichen Charakteren.
Klar lässt sich auch diese Band irgendwo einsortieren, es gibt ja genügend Genrebezeichnungen, dass irgendwas schon passen wird. Chef Alex, der parallel mit der Besprechung dieses Albums begonnen hat und beim Streichholz ziehen ums Weiterschreiben den Kürzeren gezogen hat, formuliert das so: „Mit GOD’S ON OUR SIDE, WELCOME TO THE JUNGLE legen die Nordlichter von LIRR ihr heiss erwartetes Debut vor. Und soviel sei vorab verraten – was für eins. Ist das noch Hardcore oder Post Emo oder Post Hardcore, oder, oder, oder? Dieses Album ist so vielschichtig, dass es sämtliche Genregrenzen sprengt. Vielmehr bedienen sich LIRR in einer Vielzahl von Genre Schubladen, brechen gängige Songstrukturen auf und erschaffen ein Gemisch, dass man so von einer hiesigen Band selten gehört hat. Anfangs legen sie den geneigten Hörer noch mit einem eher klassischen Hardcore Einminüter und zwei wunderbar frickeligen Post Emo Songs aufs Kreuz, spätestens jedoch mit „sour PT.1“ schwelt einem, dass man es bei GOD’S ON OUR SIDE, WELCOME TO THE JUNGLE mit einem ganz besonderen Album zu tun hat. Denn statt sich durch die 11 Songs und 28 Minuten durchzuprügeln, ziehen LIRR die Bremse und kommen mit einem waschechten Neo R’n’B Stampfer um die Ecke….“ um diesen dann in PT.2 „fast zappaesk“ wieder in seine Bestandteile zu zerlegen. Wir sind schwer gespannt auf die anstehende Tour und können das Gastspiel am 11. Oktober 2017 im schnuckeligen Kölner Tsunami Club kaum noch abwarten.
VÖ: 8. September 2017, Grand Hotel van Cleef, https://www.facebook.com/godspeedyoulirr
Ohr d’Oeuvre: jungle, pt. 1/ grow/ sour, pt. 2/
Gesamteindruck: 8.0/10
Tracklist: this house is clean, baby (this house is clean)/ jungle, pt. 1/ jungle, pt. 2/ sour, pt. 1/ sour, pt. 2/ grow/ mtv/ down/ chicago, pt. 1/ chicago, pt. 2
(gb & at)
Casper – Lang Lebe der Tod
„Keine Zeit für den Zeitgeist jetzt“ – Dabei ist Benjamin Griffey’s aka Casper’s neues Album LANG LEBE DER TOD voll von Referenzen zum Zeitgeist. Und der macht Casper scheinbar verdammt wütend.
Eigentlich höre ich überhaupt keinen Hiphop, finde ihn ehrlich gesagt sogar meistens eher furchtbar. Außer Casper. Und das ist vor allem seinen genialen Texten geschuldet. Einige Zeilen von seinem Debütalbum XOXO, das 2011 erschien, kenne ich bis heute auswendig. Das liegt wahrscheinlich vor allem an ihrer Tauglichkeit, sich auf tiefsinnige Postkarten drucken zu lassen. Diese Eigenschaft wohnt den Texten auf LANGE LEBE DER TOD nicht mehr inne, was ihrer Qualität jedoch nur noch mehr zugute kommt. Statt vor Adoleszenz-Depressionen und Seelenschmerz strotzen sie mittlerweile vor intertextuellen Referenzen und erinnern beispielsweise in „Alles ist erleuchtet“ an die Kollage-Technik der literarischen Moderne. Schwach kommt dagegen „Lass sie gehen daher“, der mehr nach dem Gejammer „alle sind gegen mich, ich bin ein Einzelkämpfer“ des prototypischen deutschen Straßenrappers klingt und so gar nicht zum Rest passen will.
Doch auch wenn Casper’s Texte, und vor allem sein Schreibstil, um einiges reifer geworden sind, hat sich eines nicht geändert: Die „Die-Welt-ist-scheiße“-Stimmung. Und das ist auch gut so. Denn niemand kann Bibi und Daggi Bee so schön zu Symbolen der bedeutungsentleerten Scheinwelt von YouTube und Instagram stilisieren wie Casper.
VÖ: 01.September 2017, Columbia/Sony Music, http://www.casperxo.com/langlebedertod/
Ohr d’Oeuvre: Alles ist erleuchtet/ Keine Angst/ Flackern, flimmern
Gesamteindruck: 9,0/10
Tracklist: Lang lebe der Tod/ Alles ist erleuchtet/ Keine Angst/ Sirenen/ Lass sie gehen/ Morgellon/ Wo die wilden Maden graben/ Deborah/ Meine Kündigung/ Flackern, flickern
(rl)