Direkt auf der Elbinsel Wilhelmsburg in Hamburg liegt das Festivalgelände vom Dockville, auf dem es neben toller Musik, den üblichen Essbuden und Bierständen auch noch so allerlei anderes zu entdecken gibt, nämlich Kunst.
In diesem Jahr steht diese, die von 30 Künstlern aus den verschiedensten Ländern stammt, ganz unter dem Motto „Recreation“. Und das meiste ist nicht nur zum bloßen Betrachten gedacht, denn der Zuschauer wird oftmals eingeladen, mit ihr zu interagieren. Ob im Schlamm baden, auf einer Hüpfburg hüpfen oder in der „Machine 1“ einen Parcours überwinden, langweilig kann es keinem werden auf der „MS Dockville“. Und so ganz nebenbei gibt es ja noch ein übervolles Musikprogramm.
Tag 1
Musikalisch startet der Freitag für uns ganz entspannt, um kurz vor fünf mit den Villagers auf Grossshotbühne, der diesjährigen Hauptbühne auf dem Dockville.
Noch nicht wirklich viele Besucher haben sich hier eingefunden, um den jungen Iren mit seiner Band anzusehen. Ganz allein und zerbrechlich steht Conor bei den ersten Songs auf der Bühne und man kann nicht anders, vor dem geistigen Auge taucht ein weiterer zerbrechlich wirkender Conor auf: Conor Oberst von (den mittlerweile ehemaligen?) Bright Eyes, was nun wahrlich keine schlechte Referenz ist. Ein wenig an seiner Bühnenpräsenz muss er schon noch arbeiten und richtig zwingend ist er erst mit seiner Band im Rücken, aber sein Talent und seine musikalische Aufrichtigkeit erkennt man sofort. Und so nimmt man ihm jedes Wort ab, wenn er in seinem Überhit „Becoming A Jackal“ singt: „I was a dreamer/ starring at windows/out to the main street/ cause that’s where the dream goes.“
Später ist es Sophie Hunger, die ebenfalls mit einer exzellenten Band im Rücken drüben auf der etwas kleineren Vorshotbühne zeigt, dass es auch aus der Schweiz großartige Musik geben kann. Besonders starke Momente hat auch sie, wenn sie sich aufs wesentliche reduziert und vor dem Klavier (in diesem Fall natürlich kein Flügel, sondern ein festivaltaugliches Keyboard) Platz nimmt.
Während K.I.Z. aus Berlin ihren Prollrap verbreiten, huschen wir schnell zu I Blame Coco, die mit Hot Pants, Kniestümpfen und Männerschuhen sowieso schon für ein visuelles Highlight sorgt.
Aber die junge Dame, deren Debüt hierzulande im Herbst erscheint, ist auch musikalisch ganz schön talentiert. Sehr melodisch, ein bisschen elektronisch und irgendwie an eine bestimmte Person im Musikbiz erinnernd. Ja, Coco Summer kann ihre (musikalischen) Wurzeln nicht verleugnen. Ihre Stimme, aber vor allem ihre Art diese einzusetzen, lässt einen dann doch immer wieder an ihren Vater Sting denken. Großes Potenzial steckt auf jeden Fall in ihr, wir sind gespannt, was die Zukunft für die gerade einmal 20-jährige bereithält.
„Wir sind gekommen, um zu bleiben“ singt eineinhalb Stunden später eine gewisse Judith Holofernes ins Mirko. Alles klar, Wir Sind Helden sind wieder da und es ist, als wären sie nie weg gewesen.
„Denkmal“ wird gleich zu Anfang rausgehauen und bringt das Publikum so richtig in Schwung, bevor eine gelungene Mischung aus den älteren Wir Sind Helden-Hits und brandneuen Songs ihres am 27. August erscheinenden Albums BRING MICH NACH HAUSE gespielt wird. Live werden Wir Sind Helden von zwei weiteren Musikern unterstützt, was ihren Songs merklich gut tut und ihnen mehr Druck als auf Platte gibt. Die neuen Lieder, die erwartungsgemäß etwas zurückhaltender vom Publikum aufgenommen werden, reihen sich jedoch prima in die Setlist ein. Das mit Akkordeon beginnende „Was Uns Beiden Gehört“ oder „das Herzstück des neuen Albums“ (Judith), „Bring Mich Nach Hause“, lassen keine Zweifel aufkommen, es ist wieder Heldenzeit in Deutschland. So lassen wir den ersten Dockvilletag mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht ausklingen und freuen uns auf die baldige Tour der Helden.
Fotos von Tag 1; Fotograf Kay Siegert
Wir sind Helden
Villagers
I Blame Coco
Sophie Hunger
Duné
Tag 2
Der zweite Tag startet früh. 14 Uhr, eine für Festivalverhältnisse noch nachtschlafende Zeit, ist es gerade einmal, als die Jungs von Kakkmaddafakka, unterstützt von ihrem eigenen Kakkmaddafakkachoir, auf die Bühne stürmen. Trotz der Uhrzeit, der Platz vor der Vorshotbühne ist voll. Irgendwie muss es sich herumgesprochen haben, dass die Jungs, die aus der sehr fruchtbaren Musikszene Bergens stammen, es wert sind, angeschaut zu werden. Auch ohne CD-Veröffentlichung hierzulande.
Die durchgeknallten Norweger, anders kann man sie wirklich nicht bezeichnen, bieten aber auch eine grandiose Show. Eingängig, mit ungewöhnlicher Instrumentierung wie Cello und ihrem eigenen Zweimannchor, der in Ringelshirts und kurzer Hose gekleidet mal mehr, mal weniger synchron im Takt tanzt und Backingvocals ins Mikro haucht. So zeigen sie, dass man einfach nur kreativ sein muss, um in dem ganzen Einheitsbrei der Musikwelt aufzufallen. Ihre Musik ist eine wilde Mischung aus allem: Rock, Pop, Elektro, ein wenig Hip Hop. Und live sind die Jungs vor allem eines: mitreißend. Was für eine Show, Hut ab.
Aber bevor wir Zeit haben, zurück in der Realität anzukommen, begeben wir uns erst einmal in eine Zeitmaschine und landen in den 50er Jahren mit den drei Geschwistern von Kitty, Daisy & Lewis aus London . A cappella beginnen Kitty und Daisy ihre Show, bevor Lewis, sowie ihre beiden Eltern mit auf die Bühne kommen und mit ihrem Rhythm and Blues und Rock’n Roll loslegen. Vor allem „Going Up The Country“ beweist dem Publikum, dass diese Musik, die aus der Vergangenheit zu stammen scheint, absolut in die heutige Zeit passt.
Kurzzeitig werden wir daran erinnert, dass wir im Jahr 2010 leben und nicht 1950, als ein als Borat gekleideter Festivalbesucher die Bühne stürmt. Kitty, Daisy & Lewis nehmen es gelassen und lassen sich nicht irritieren, sondern zeigen uns, dass so ein Mundharmonika-Solo auf Konzerten absolut super ist.
Musikalisch ebenso hochwertig geht es währenddessen auf der Hauptbühne weiter, wo inzwischen Bombay Bicycle Club gelandet ist. Mit Hits wie „Dust On The Ground“ oder „Always Like This“ im Gepäck, freuen wir uns über einen gelungen Auftritt der vier.
Danach geht es weiter zur Disco. Gemeinsam mit Frank Spilker und den Hamburger Urgesteinen Die Sterne tanzen wir uns unsere Depressionen aus dem Leib und singen: „Sprich mit meiner Hand“, während Frank leicht ungelenk und mit knalligem orangenen T-Shirt über die Bühne tanzt. Sehr sympathisch diese Band, immer wieder.
Inzwischen ist es auch schon dunkel geworden und wir freuen uns, dass Delphic live während ihrer Tour immer besser in Fahrt kommen und uns mit ihrem neverending Dj-Set und Synthiebattles zum Tanzen bringen.
Tanzen klappt auch ganz wunderbar beim Headliner des heutigen Abends, den Klaxons. Ja, die Klaxons sind endlich wieder da und lassen uns absolut begeistert und sprachlos zurück. Neben ihren New Rave orientierten Hits des ersten Albums zeigen sie uns, dass sie es auch ordentlich krachen lassen können. SURFING THE VOID, ihr neues Album, kommt jedenfalls mit ordentlich elektronischem Rock und Pop daher. Von theatralischen „Echoes“ bis zum hektischen „Flashover“ scheint das neue Album noch progressiver zu sein als der Vorgänger MYTHS OF THE NEAR FUTURE zu sein und liefert einen großartigen Vorgeschmack auf das am Freitag erscheinende Album.
Fotos von Tag 2, Fotograf: Kay Siegert
Klaxons
Kitty, Daisy & Lewis
Kakkmaddafakkas
Delphic
Die Sterne
Bonaparte
Tag 3
Der dritte und letzte Tag begrüßt uns mit afrikanischen Stammesgesängen. Naja, nicht wirklich, aber das, was Tune-Yards zu zweit auf die Bühne zaubern, kann einen schon daran erinnern. Mit Loopmaschine ausgestattet, gelingt es den beiden, ihre schräg-experimentellen Songs mitreißend rüberzubringen und den noch recht leeren Platz vor der Vorshotbühne langsam aufzuwecken.
Auf der Hauptbühne geht es mit den vier Schotten von We Were Promised Jetpacks weiter, die wieder einmal absolut zu überzeugen wissen. Daran kann auch der erste Regenschauer des Tages nichts ändern.
Hübsch beschwingt geht es dann mit Fanfarlo aus Schweden weiter, die mit ihren vielen Instrumenten kleine Popperlen auf die Bühne und jedem ein seliges Grinsen aufs Gesicht zaubern können.
Dann betritt die wohl die gehypteste Band des Jahres die Bühne: The Drums. Und es wird ganz schon viel heiße Luft um nicht viel gemacht bei dieser Band, das muss man einfach feststellen. Perfekt einstudierte, affektierte Posen des Sängers Jonathan, die vielleicht auf Fotos gut aussehen, aber in der Realität nach ein paar Minuten nervig werden und uninspiriertes Indiegeschrammel, das in keinster Weise das halten kann, was sich viele wohl erhofft hatten. Der Funke zum Publikum will nicht überspringen und eigentlich warten sowieso alle nur auf „Let’s Go Surfing“. Da ist dann auf einmal Stimmung da und man bedauert es ein wenig, dass diese Band nicht mehr solcher zwingenden Hits auf Lager hat und sich so sehr hinter den Posen versteckt, anstatt selber zum Vorschein zu kommen.
Aber zum Beschweren bleibt keine Zeit, denn die Headliner des Festivals stehen in den Startlöchern: Chefstyler Jan Delay und seine Disko No. 1 sowie Hallogallo 2010. Alle diejenigen, die diese Auftritte sehen möchten wird einiges abverlangt, denn es beginnt pünktlich zu den Auftritten, ganze Wasserfälle zu regnen, während zuckende Blitze, den pechschwarzen Himmel erhellen.
„Wenn ich an eurer Stelle wäre, wäre ich schon längst zu Hause“ erklärt Jan Delay dann auch angesichts der Wassermassen, die da von oben herab kommen. Aber ans nach Hause gehen denkt hier niemand. Gut so, denn verpasst haben sollte man keinen der Auftritte.
Jan Delay tobt sich erst einmal mit Das Bo und seinem Song „Türlich, Türlich“ aus, dann an „Everybody „von den Backstreet Boys bevor er seine eigenen Hits wie “ Feuer“ oder „Ich Möchte Nicht, Dass Ihr Meine Lieder Singt“ in die Menge schießt.
In der Mitte des Sets dürfen die Kinder des Lütville-Projekts des Dockvillefestivals auf die Bühne und wie im letzten Jahr bei MGMT eine Tanzperformance aufführen.
Gemeinsam wird gehüpft, getanzt, gesungen und dem Regen getrotzt. Genau so, wie es sich für ein ordentliches Festival gehört.
Zur gleichen Zeit eröffnen wahre Legenden ihr Set auf der zweiten Bühne. Kein geringerer als Michael Rother, ehemals Mitglied von Kraftwerk und NEU!, hat eine neue Supergroup aufgebaut. Zusammen mit Steve Shelley von Sonic Youth und Aaron Mullan zelebriert er alias Hallogallo 2010 alte NEU!-Lieder, aber auch Stücke aus seinem Solo-Material und der Kolaboration Harmonia. Der treibende Krautrockbeat, den Klaus Dinger zu Lebzeiten so unverwechselbar machte, findet in Steve Shelley einen würdigen Ersatz. Und während zu Mammutwerken wie Hallogallo oder Neutronics 98 Herr Rother mal an der Gitarre, mal an den Synthisizern und Computern glänzt und Steve Shelley unermüdlich den Dinger-Beat trommelt, gießt es vom Himmel ganze Wasserfälle. Die Blitze erhellen den Himmel passend zur Musik und scheinen zu diesen Gesamterlebnis dazuzugehören. Die Zuschauer tanzen entweder halbnackt ekstatisch im bereits mehr als knöcheltiefen Pfützen oder stehen fassungslos da und versuchen jeden Ton in sich aufzusaugen. Die Augen geschlossen, der Oberkörper rhythmisch zuckend, die Lippen zu einen glücklichen Lächeln geformt.
Es regnet noch immer, als die letzten Töne von Rothers Set verklungen sind. Das Dockvillefestival hat einen absolut angemessenen Abschluss gefunden und wir freuen uns jetzt schon auf nächstes Jahr. Denn auch wir sind eigentlich gekommen, um zu bleiben.
Fotos von Tag 3; Fotograf Kay Siegert
Hallogallo
Jan Delay
The Drums
Fanfarlo
We Were Promised Jetpacks