Der Mann der Männer.
Frederik Hahn, zum Teil Haitianer und zum Teil Frankfurter Kind mit sozialproblematischen Background brachte nach unzähligen Jahren aufopferndster Hingabe für das Gesamtkonzept Hip Hop zum Jahrtausendwechsel sein bis dato einziges Soloalbum heraus, das sich einbrennen sollte wie vokale Zigarettenstummel im Herzen und Tattoonadeln mit Basslinien auf unseren Rücken.
Man blickt zurück. Torch, Torchmann, ein Bub. Irgendwann in den 80ern ging alles los, dieses Ding, das ihn so angefixt hatte. Er war der Pionier, der deutsche Botschafter der Zulu Nation (legendäre Mitglieder aus den Staaten waren zum Beispiel De La Soul, Jungle Brothers, KRS-ONE), ernannt von Afrika Bambaataa himself. Bis zur späten Mitte der 80er sprühte und b-boyte er sich so durch das rapbrache Westdeutschland, bis er einen Schritt weiterging und mit Toni-L, Linguist, Gee-One und DJ Mike D AC, Advanced Chemistry, grünete. Als krasser Gegensatz zu aufkeimenden Modeerscheinungen wie die Fantastischen Vier und Konsorten behaupteten sie sich schnell in der wahren Szene, die Szene der wahren Heads. Weit und breit schätze man die gesellschaftskritischen Texte AC’s, gepaart mit den fettesten Beats, lyrischen Schlaraffenländern, und Kontexten, die so real waren wie die Wahrheit selbst. “Fremd im eigenen Land“ war dann so etwas wie der inoffizielle Durchbruch für die Jungs und ermöglichte ihnen somit auch die Aufmerksamkeit anderer Fraktionen, die bisweilen vielleicht gar nicht in ihre Zielgruppe gepasst hätten. Zur gleichen Zeit wurde Torch als charismatischer Moderator für die erste deutsche Sendung, die sich mit der Rapkultur beschäftigte, auf Viva lief und Freestyle hieß, engagiert und war außerdem einer der Begründer, der heute immer noch überaus aktiven und erfolgreichen Community MZEE.
Es verging Jahr um Jahr, produktiv, schmerzvoll, feiernd – Torch hier, Torch da. Bis dann vor genau elf Jahren das Meisterwerk BLAUER SAMT erscheint, das schon kurze Zeit nach Veröffentlichung nicht mehr erhältlich ist. Ein Album, das erst Monate später wirklich an Bedeutung und Gewichtigkeit gewinnt, ein Album, das im Olymp der Meilensteine so weit oben hängt, dass sogar Inspector Gadget enorme Probleme hat, dieses zu erreichen. Dieser Tage als Re-Release veröffentlicht anlässlich des runden, des 40., Geburtstages von Torch, dem Mann, der sich in “Wer bin ich“ als „Sündenbock, Legende in Leder und Lieblingsrapper“ bezeichnet, eine Aussage, die milde untertrieben ist. BLAUER SAMT steht auf Platz eins bei HHV, was also sowas wie der hübscheste Sneaker im Frontlineshop wäre. Vielleicht kommt die Musik heute sogar noch besser als damals an, kann mehr durchdringen und zum Umdenken bewegen. Realistisch genug wäre es durchaus, da wir heute schließlich, eine Dekade später, den ultimativen Vergleich im Sprachgesangsdeutschland haben. So ist es nicht undenkbar, dass man plötzlich dazu neigt Tracks wie “Wir waren mal Stars“ nicht mehr zu feiern, sondern mit weit aufgerissenen Augen festzustellen, dass man ganz und gar nicht froh über diesen Umstand ist. Diesen Umstand, dass Leute wie Torch und Anhang keine Stars mehr sind, sondern Rap geschrieben wird von Musikern, die wahrscheinlich nicht mal wissen, wie man Torch buchstabiert. Und buchstabieren, darum geht es hier. Die Kraft der Worte, die Möglichkeit der mündlichen Gestaltung, die Schönheit der verspieltesten Reime, über deren Magie sich dieser Linguistikprophet einfach zu jedem Zeitpunkt bewusst ist und der Fakt, dass man das auch deutlich spüren kann, lassen ihn noch größer erschienen. Man kann ihn mit Guru vergleichen, in möglicherweise als den deutschen ernennen, und auch wenn das eine verdammt hohe Ehre wäre, so ist es doch nicht gut genug für ihn in seinen Wirkungs- und Handlungsbereichen. Dieser Mann hat sein eigenes Fußballfeld verdient, auf dem er seine hochpoetischen Wortphrasen in jede Ecke seiner Wahl kicken kann.
In “Gewalt oder Sex“ heißt es „Im Park keine Bank / in der Bank sitzt die Mark / Geld erdrückt / und das Geld druckt der Staat.“, doch man sollte wirklich nochmal losziehen mit dem letzten Kleingeld im Portemonnaie, zum Plattenhändler des Vertrauens gehen und dieses immens wichtige Re-Release BLAUER SAMT käuflich erwerben, da alles andere unentschuldbar wäre.
„Graffiti nur Kunst / und Rap nur Musik / und doch der einzige Grund warum ich manchmal dieses Leben lieb.“
In tiefster Demut ist dem nichts hinzuzufügen.
VÖ: 30.09.2011; 360 Grad Records / Sony Music
Tracklist:
01. Kapitel 29 10/10
02. Die Welt brennt 7,5/10
03. Interlude 1 9/10
04. Gewalt oder Sex 7,5/10
05. Wir waren mal Stars 8/10
06. Interlude 2 8,5/10
07. Als ich zur Schule ging 7,5/10
08. Interlude 3 5/10
09. Wer bin ich 7/10
10. Der flammende Ring 10/10
11. Blauer Schein 9,5/10
12. Hey Mädel 8,5/10
13. In deinen Armen 6,5/10
14. Heute 10/10
15. Ich hab geschrieben 10/10
16. Blauer Samt 8/10
17. Heute Nacht 9,5/10
18. Zeig mir den Weg 7,5/10
19. Interlude 4 8/10
20. Auf der Flucht 6/10
21. Rote Wellen 7/10
22. Shaolin 10/10
23. Morgen 10/10
Durchschnitt: 9,5/10
Gesamteindruck: 9/10
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