Es kommt einem wie in den Asterix-Comics vor: Es gibt ein Dorf, was sich gegen die übliche Dorfidylle wehrt und beschlossen hat, das Zentrum zum Rocken und Kochen zu bringen. Dieses Dorf heißt Stade, liegt in Niedersachsen, hat unter 50.000 Einwohner und eine historische, traumhaft-malerische Altstadt, die die Szenerie für ein kleines, aber feines Festival stellt. Neun Künstler, verteilt auf drei Locations, welche beim Hamburger Label Tapete ihre Alben veröffentlichen oder ihm sehr nahe stehen, bilden das Line-Up dieses Festivals.
In der wohl schönsten Kulisse, dem Königsmarcksaal des Rathauses, beginnt Tapete-Gründungsmitglied Dirk Darmstaedter den Abend. Hier ist bei dem Namen des Raumes etwas Phantasie gefragt, um ihn sich vorstellen zu können. Kronleuchter, die von der Decke hängen und bemalte Fensterscheiben stimmen gemütlich und erleichtern dem Ex-Frontmann der Jeremy Days die Arbeit. Er trägt seine Songs mit seiner Gitarre so druckvoll vor, dass andere Instrumente gar nicht vermisst werden. Die Anschläge sind so hart und präzise, dass es meist rockig klingt und das sitzende Publikum dadurch gut mitgehen kann. Darmstaedter stellt meist Tracks aus seinem neuestem Album APPEARANCES vor, huldigt abwechslungsreich Fred Astaire oder Walter von der Vogelweide in dem Song „The last Troubadour“ und schafft den Spagat, dass seine melancholischen, fast depressiven Texte nicht jammernd klingen und das Publikum keinen Trübsal bläst. Das ist ein echtes Kunststück, hält die Stimmung oben und motiviert für die weiteren Bands. Sichtlich beeindruckt von dem begeistertem Publikum und der atemberaubenden Kulisse, welches altersmäßig ungewöhnlich gemischt ist, bedankt sich Darmstaedter und spielt am Schluss seines Sets „Brand new toy“, jener Hit der die Jeremy Days und ihn populär machten.
Nach einer Stunde Gitarrenmusik wird es Zeit für einen Ortswechsel. Ca. 300m Fußweg sorgen für etwas Frische im Kopf und in der Seminarturnhalle spielt bereits Ezio in einer abgespeckten Formation. Mit einem Partner am Schlagzeug spielt sich Ezio Lunedei meist an der E-Gitarre durch über 20 Jahren Bandgeschichte. Ezio legt bei seinem Set Wert auf humorvolle und ironische Ansagen und weiß damit das sehr altersgemischte stehende Konzertpublikum zu überzeugen. Er disst das lokale Bier, spricht über Sex in seinem Alter und kündigt immer einen Hit an, den er nicht vorzuweisen hat. Trotz fehlender Hits kann Ezio auf ein gitarrenlastiges Repertoire von sechs Studioalben und jede Menge Erfahrung zurückgreifen. Der Mix aus Spaß, Rock und Ezios Authenzität gefällt und ist ein gelungenes Beispiel dafür, dass es bei Singer/Songwritermusik nicht melancholisch zugehen muss. Ezio ist auch ein Einzelkonzert wert.
Die Seminarturnhalle bleibt Ort des Geschehens, da im Anschluss Olli Schulz auftreten wird, Spätestens jetzt wird deutlich, dass hier die Spaßfraktion regiert. Olli Schulz legt solo einen merkwürdigen weil sehr chaotischen Auftritt hin. Für Chaos und seine langen Ansagen ist Olli Schulz geradezu berüchtigt und auch diesmal enttäuscht er seine Anhänger nicht. So reißt ihm eine Gitarrenseite und verrennt sich in die Idee mit Bernd Begemann (der nach Olli Schulz spielen wird) ein Duett zu singen. Es ist etwas Widerwille spürbar, doch letztendlich musizieren beide gemeinsam. Ungeprobt und deshalb komisch spielen die beiden z.B. „I was made for loving you“ von Kiss an. Leider kommt bei diesem Nonsens die „echte“ Musik Olli Schulz‘ zu kurz und die nagelneuen Tracks seines Albums SOS SAVE OLLI SCHULZ kann er nicht ausreichend würdigen. Songs wie „Spielerfrauen“, wo es um Frauen von Fußballspielern geht oder „Wenn es gut ist“ lassen spüren, wie viel Potenzial in ihm steckt und dass er sich durchaus auch ernsten Themen zuwenden kann. Ein Einzelkonzert von Olli Schulz zu besuchen wird sich in jedem Fall lohnen. Was an Musikgenuss fehlt, macht er mit Entertainment jedoch wieder weg.
Nach diesem Gig geht es für ein paar Minuten zurück an den Anfang des Geschehens. Lloyd Cole tritt dort zu bereits später Stunde auf und bietet zu dieser Uhrzeit eher eine gute Nachtmusik zum Träumen und Dahinschmelzen, als Musik mit Fun-Faktor oder gar Rockmusik. jmc sah ihn bereits wenige Tage davor in Bonn. Um sich fitzuhalten, geht es anschließend zurück zur Seminarturnhalle, da dort Bernd Begemann & die Befreiung die lauteste und motivierteste Show des Abends hinlegen – und dazu noch die einzige mit kompletter Band. Wie von der Tarantel gestochen und immer wieder die Menge anpeitschend fegt Bernd Begemann trotz Übergewicht über die Bühne wie ein Profisportler. Gleich mit seiner Ode an Hamburg „Oh, St. Pauli“ zieht er die Zuschauer auf seine Seite. Die deutschsprachigen Songs sind oft hymnenartig komponiert und bieten einen perfekten Mix aus Rock, Pop und einer kleinen Prise Schlager. Vergleiche zu Guildo Horn aber auch den Sternen oder Nena sind durchaus zu ziehen und ehrenhaft gemeint. Klingt auf Begemanns Platten vieles eher weichgespült, so bläst einem live ein durchaus rauerer Sound um die Ohren. Begemann ist ein schlauer Fuchs, da er Zuschauerwünsche erfüllt und somit Nähe zu den Fans herstellt. So spielt er z.B. „Zweimal zweite Wahl“, in dem es um ein Paar geht, welches den jeweils anderen nur als Partner nimmt, da es keinen besseren gibt. Begemann und seine Band wissen, dass sie diejenigen sind, die eine Schippe drauflegen müssen, damit alle zufrieden nach Hause oder weiterfeiern gehen. Das gelingt ihnen in über 60 Minuten vorzüglich, da sie sich für keinen Schweißtropfen zu schade sind. Mit einer tollen Show, die die Erwartungen des Autors bei weitem übertrifft, geht ein tolles Festival zu Ende. Ein Festival, das obendrein auch noch je zwei Auftritte von Tess Wiley, Denis Jones und Francesco Wilking sowie einen von Niels Frevert bot und wo niemand der beteiligten Künstler Zweifel daran ließ, das Festival wiederholen zu wollen. Jedem Besucher dürfte spätestens jetzt klar sein: Ein Festival von Songwritern in der Pampa ist alles andere als öde.