Bevor Eddie Vedder & Co. aber an diesem Donnerstagabend zum zweiten Mal binnen 24 Stunden die Bundeshauptstadt in Grund und Boden spielen, betreten zunächst drei angegraute Herren und eine auch nicht mehr ganz so frische Frontfrau die Bühne. Statt einer Nachwuchsband eine Chance zu geben, haben sich Pearl Jam, offenbar vor allem Frontmann Eddie Vedder, einen Traum erfüllt und die eigenen Helden der Jugend mit auf Tour genommen. Wie Eddie Vedder später am Abend erzählt, war er 19, als er X erstmals live erlebte. So kurz, prägnant und schwer googlebar nennt sich die Band aus Los Angeles, und obwohl sie nicht Namensgeber der „Generation X“ ist, so hatte sie Anfang der 80er Jahre doch gehörigen Einfluss auf die Kids: Die ersten beiden Alben der Punkband zählt der Rolling Stone gar zu den 500 wichtigsten aller Zeiten.
Doch ähnlich angegraut wie die Bandmitglieder wirkt leider auch der Sound von X. Zu gefallen wissen Frontfrau Exene Cervenka und ihre Mitstreiter in ihrem rund 40-minütigen Set nur an einigen Stellen, beispielsweise bei ihrem größten Hit „Los Angeles“ oder aber den durchaus gelungenen Coverversionen von „Breathless“ (Jerry Lee Lewis) und „Soul Kitchen“ (The Doors). Ansonsten erinnern X musikalisch leider eher an Status Quo als an die Ramones oder die Sex Pistols. Das Publikum applaudiert zwar freundlich und höflich, Bewegung herrscht im Innenraum aber nur im ersten und letzten Stück des Sets: Die smarten und auch die nicht so smarten Handys werden gezückt und es wird wild drauflos fotografiert. Zu Beginn, weil es nach schier endloser Warterei nach frühem Einlass in die O2-World endlich losgeht. Und am Ende, weil Eddie Vedder zum letzten Stück „Devil Doll“ auf die Bühne kommt und ein mitreißendes Duett mit Exene Cervenka hinlegt.
Alles in allem ist es letztlich schon ein okayes Set von X, aber in der sich nun langsam erst richtig füllenden Arena zeigt sich trotzdem niemand unglücklich darüber, als die Kalifornier ihr Set beenden. Stattdessen dauert es nur rund zwanzig Minuten, bis langsam Stimmung unter dem riesigen Dach aufkommt: Die „La Ola“ schwappt durch die Ränge, und weitere zehn Minuten später gibt es kein Halten mehr, als Eddie Vedder, Mike McCready, Stone Gossard, Jeff Ament und Matt Cameron zu einem Piano-Intro endlich die Bühne betreten.
Und das Quintett beweist von Beginn an, weshalb sie seit Jahren zu den besten und spannendsten Livebands auf diesem Planeten gehört. Sie eröffnen ihr über zweistündiges Set gleich mit „Oceans“, einem Klassiker ihres Debütalbums. Unglaublich, aber diesen Song hatten Pearl Jam seit über 15 Jahren nicht mehr auf europäischem Boden gespielt. Eddie Vedder und Co. können aus einem riesigen Repertoire aus neun Studioalben, unzähligen B-Seiten und Raritäten sowie passenden Coverversionen schöpfen, so dass sie ihre Fans auch nach 21 Jahren immer wieder überraschen können. So verwundert es nicht, dass sich viele Anhänger gleich für beide Berlin-Gigs Tickets gesichert haben – denn lediglich sechs Stücke werden an beiden Abenden gespielt.
Pearl Jam legen ein grandioses Set hin, drücken mit „Animal“, „Even Flow“ oder „Go“ aufs Gaspedal, um den Fuß gleich im nächsten Moment auf die Bremse zu wechseln. Eddie Vedder hat die ersten Reihen stets im Blick, und sobald es ihm dort zu eng erscheint, sorgt er mit freundlichen Ansagen dafür, dass alle auf sein Kommando drei Schritte zurück gehen. Pearl Jam haben auch zwölf Jahre nach dem Unglück den Roskilde-Zwischenfall nicht vergessen und gehen daher auf Nummer sicher – eine gute Sache, die von den Fans auch dementsprechend honoriert wird.
So nimmt das Quintett das Publikum in der O2-World mit auf eine faszinierende Reise durch die lange Bandgeschichte, lässt keines seiner Alben außen vor und bietet mit passend eingestreuten Mitsing- und Mitklatschpassagen eine Show, die man tatsächlich als „Stadionrock“ bezeichnen könnte, wenn dieses Wort nicht so beleidigend klingen würde. Neben Eddie Vedder, der unter anderem auch damit beeindruckt, wie beweglich 47-jährige Körper sein können, sticht besonders Mike McCready als Rampensau hervor. Der Gitarrist erntet häufig Sonderapplaus und den einen oder anderen offenen Mund, als er sein Solo bei „Even Flow“ hinter seinem Rücken darbietet.
Wie Eddie Vedder im Laufe des Abends mitteilt, ist es heute – nach bandeigener Zählung zumindest – das 999. Pearl-Jam-Konzert. Und bei dessen Zugaben übertreffen sich die Amerikaner noch einmal selbst: Mit dem Pink-Floyd-Cover „Mother“ kehren sie auf die Bühne zurück und beginnen damit eine ruhige Passage, die über „Just Breathe“ und „Nothingman“ in den ersten Chorus der Hymne „Better Man“ mündet. Danach geht es noch einmal härter zur Sache: „Life Wasted“, die Klassiker „Porch“ und „Blood“, und dann endlich: Bei „Alive“, dem Breakthrough-Hit von 1991, liegen sich 10.000 Fans in den Armen und singen jedes Wort lautstark mit. Beim The-Who-Cover „Baba O’Riley“ verschenkt Vedder fleißig Tamburine, ehe Pearl Jam die Zuschauer glücklich-beseelt in die regnerische Berliner Nacht entlässt – mit „Yellow Ledbetter“, einer B-Seite. So etwas können auch nur Pearl Jam!
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