Alcest befinden sich zur Zeit auf dem Höhepunkt ihrer bisherigen Karriere. Am aktuellen Album SHELTER scheiden sich allerdings die Geister von neuen Fans und Anhängern aus frühen Tagen. Ein Zustand, den steigende Popularität und konstante Weiterentwicklung für viele Bands mit sich bringt. Trotz allem hatten die Franzosen noch nie so viel Zuspruch wie heute. Wir trafen Bandleader Stéphane „Neige“ Paut beim Day-Off in Köln und sprachen mit ihm über französische Texte, den Grund, wieso sich Kunst verändert und natürlich über Heavy Metal.
jmc: Stéphane, Alcest sind einen langen Weg gegangen. Als Atmo-Black-Metal-Band gestartet, seid ihr über vier Alben immer mehr in Richtung Shoegaze gedrifted. Wie kam diese Entwicklung zustande?
Stéphane: Alcest ist keine Band im eigentlichen Sinne. Alcest ist mein Soloprojekt, das ich gemeinsam mit meinem Drummer Jean verwirkliche und auf die Bühne bringe. Seit ich vierzehn Jahre alt bin, mache ich Musik. Damals spielte Metal eine große Rolle in meinem Leben. Heute bin ich vierundzwanzig und bei allen Konstanten ein anderer Mensch, als vor zehn Jahren. Man könnte sagen, die Musik folgt mir und ich folge ihr. Im gleichen Maße, wie ich mich verändere, tut sie es auch. Ich kann mich jedenfalls an keinen Vertrag erinnern, den ich mit Monsieur Metal abgeschlossen habe (lacht). Das wäre ja schrecklich! Und noch was: Auch wenn wir früher einen Haufen verzerrter Gitarren verwendeteten, hast du auf unseren Alben nie stumpfes Riffgehacke gehört. Alcest war immer schon aus einer gewissen Haltung heraus positiv. Wir haben immer schon träumerische Musik gemacht.
jmc: Mit Hinblick auf diese Entwicklung drängt sich die Frage nach den musikalischen Einflüssen von Alcest auf. Wer stand für SHELTER Pate?
Stéphane: Zuerst einmal: Ich habe immer versucht, nicht bedeutend von anderen Bands beeinflusst zu werden und meine Musik sehr persönlich zu halten. Ich möchte etwas erschaffen, das mit mir zu tun hat und mir gehört. Deswegen habe ich immer sehr darauf geachtet, die Essenz und die Seele von Alcest zu bewahren. Im gleichen Gedankengang ist es dann auch egal, welche Meinung andere zu meiner Musik haben. Aber wie du schon bemerkt hast, ist SHELTER die erste Platte, bei der ich bewusst Einflüsse anderer Bands zuließ. Während des Entstehungsprozesses habe ich viele der alten Shoegaze- und Dreampopbands aus den frühen Neunzigern gehört: Dead Can Dance, My Bloody Valentine, Slowdive oder auch die großartigen Lush. Aber wie gesagt, das sind bewusst gewählte Einflüsse. Alcest bleiben eigen, bei allem gezollten Tribut werden wir nie wie eine Tributeband klingen.
jmc: Vorhin sagtest du, dass es dir egal sei, was andere Leute über deine Musik denken. Trotz allem habt ihr ein Publikum. Wie gehst du generell mit Erwartungen um?
Stéphane: Viele der alten Fans sind regelrecht wütend auf Alcest. Wir haben etwas verändert, was sie mochten, weißt Du? Sobald du Musik veröffentlichst, denken die Leute, sie gehöre ihnen. Aber das stimmt nicht. Wir lieben unser Publikum, aber am Ende ist es immer noch unsere Musik.
jmc: Das Problem an Kunst an sich ist, dass sie sich unweigerlich verändert, sobald jemand da ist, der sie bemerkt. Sobald jemand sieht oder hört, was du tust, wird sie nicht mehr dieselbe sein.
Stéphane: Ja, weil sie eine Wertung bekommt, der man sich anzupassen neigt. Man muss sich davon befreien. Ich kümmere mich nicht darum, was andere Leute von meiner Musik erwarten. Wenn sie sie mögen, freut mich das aber natürlich. (lacht)
jmc: Die Vogelstrauß-Taktik. Klappt immer. Lass uns das Thema wechseln: Uns ist zu Ohren gekommen, dass sich mittlerweile eine ganze Reihe großer Labels für Alcest interessieren. Ist der Gang zum Major ein Thema für Dich?
Stéphane: Prophecy Records hat für SHELTER einen super Job hingelegt. Wir sind zufriedener als jemals zuvor mit unserem Label. Wie das mit der Promo für die Platte lief war ein absoluter Pluspunkt. Aber ja, du hast Recht, das Interesse von wirklich großen Labels ist da. Das ist aber keine Sache, die jetzt entschieden werden kann. Wir sind auf jeden Fall für mindestens ein weiteres Album bei Prophecy.
jmc: Welches aber erst noch geschrieben werden muss. Wie kann man sich das vorstellen? Du sitzt zuhause an deinem Rechner, nimmst Entwürfe auf und bringst die dann mit ins Studio? Oder arbeitest du die Songs mit deiner Band im Proberaum aus?
Stéphane: Oh, da bin ich sehr oldschool. Ich besitze keinen Computer, auf dem ich Musik mache, obgleich ich kein Technikverweigerer bin. Ich nehme alle Ideen mit meinem Smartphone auf – und zwar ohne großen Schnickschnack wie Effektpedale. Einige Jahre lang hatte ich auch ein 8-Spur-Gerät im Einsatz. SHELTER entstand aber wieder ganz puristisch. Ich habe alle meine Riffs auf meinem Telefon gesammelt.
jmc: Äh, und dann hast du die im Studio zusammengebaut?
Stéphane: Die mussten nicht zusammengebaut werden. Ich habe immer den kompletten Song im Kopf. Zuerst nehme ich Riffs auf, spiele sie mit meinem Smartphone ab und packe eine Leadgitarre oben drauf. Im Prinzip jamme ich eine Weile zu meinen eigenen Sachen. Wenn ich mir sicher bin, wohin die Reise geht, arbeite ich den Gesang aus. Danach treffe ich mich mit meinem Drummer Jean. Bei ihm nehmen wir die Sachen auf und packen sie auf seinen Rechner. Aber das ist der zweite Schritt. Ein guter Song muss von Anfang an stimmen. Wenn die Idee funktioniert, funktioniert der Song.
jmc: Wie wichtig ist es für dich, Texte auf Französisch zu schreiben?
Stéphane: Ich denke nicht, dass es generell wichtig ist. Ich fühle mich wohl dabei, auf französisch zu texten, aber es ist auch nicht einfach. In der eigenen Muttersprache zu singen, macht greifbarer, das kann nach hinten losgehen und man ist schnell entzaubert. Ich bin mir aber durchaus bewusst, dass das Französisch einer der Gründe ist, wieso uns die Leute mögen.
jmc: Klar, Französisch ist ’ne schöne Sprache!
Stéphane: Alle Sprachen sind auf ihre Weise schön. Französisch wird von vielen Leuten mit Romantik in Verbindung gebracht. Wir verfolgen mit Alcest im Großen und Ganzen ja eine romantisches Idee. Eventuell funktioniert das deswegen so gut. Wir haben übrigens auch viele Songs, die komplett ohne Sprache auskommen und bei denen ich nur Laute singe. Die Stimme ist ja nur ein weiteres Instrument. Texte sind mir trotzdem enorm wichtig. Alcest hat ein starkes lyrisches Konzept. Hört Euch SHELTER an, vielleicht erkennt ihr es.
jmc: Stéphane, wir danken für das Gespräch!
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