Steve Hackett meint es gut mit seinen Fans. So gut, dass GENESIS REVISITED: LIVE AT THE ROYAL ALBERT HALL inzwischen die fünfte Veröffentlichung in einer Reihe von Genesis-Tributen darstellt (GENESIS REVISITED, GENESIS FILES – eine halboffizielle Veröffentlichung, GENESIS REVISITED II, LIVE AT HAMMERSMITH), die irgendwo zwischen „überflüssig“ und „einzig wahren Neueinspielungen“ pendeln, denn er war schließlich Teil der großen Band, an der sich Heerscharen von Neo- und Retro-Proggern abarbeiten.
Im Genesiskosmos ist er (neben Ray Wilson) der einzige Musiker, der sich überhaupt noch mit dem Erbe seiner Band befasst. Darüber hinaus huldigt Hackett immer noch dem Prog in Reinform, veröffentlicht regelmäßig überdurchschnittliche Platten, deren kommerzieller Erfolg leider eher bescheiden ausfällt. Bevor jedoch das neue Album eingehender besprochen wird, ein Blick auf die Aktivitäten der anderen Bandmitglieder:
Peter Gabriel letztes Album liegt über zehn Jahre zurück – über den Wust an Blurays, Live CDs, Projekten aus den 1980er-Jahren und seine anstrengend-saftlosen Orchesteraufnahmen hüllen wir an dieser Stelle den Mantel des Schweigens (nebenbei hat Hackett auch auf orchestraler Seite die Nase vorn). Phil Collins scheint jegliches Interesse an der Musik verloren zu haben, was wohl auch an einer Krankheit liegt, die es ihm unmöglich macht, weiterhin zu trommeln. Mike Rutherford widmet sich seinen Mechanics (hat allerdings mit SMALLCREEPS DAY ein überaus interessantes Album im Backkatalog). Tony Banks konnte Solo nie so richtig Fuß fassen, komponiert nun (mittelmäßige) Wohlfühlklassik. Antony Phillips (Hacketts Vorgänger) leidet weiterhin an einer extremen Form des Lampenfiebers, was, betrachtet man seine interessante Diskografie, extrem bedauerlich ist. Und Ray Wilson ist im Prinzip des ganze Jahr über livetechnisch unterwegs, ein mittelmäßiges Album folgt dem anderen – und doch bleibt er dabei grundsympathisch (wobei man sich fragen muss, ob Genesis nun seine Karriere zerstörten oder am Leben hielten – immerhin tourt er nur zu gern als ehemaliger Genesis-Sänger).
Hat GENESIS REVISITED: LIVE AT THE ROYAL ALBERT HALL also seine Daseinsberechtigung oder handelt es sich nur um den Versuch, Genesis-Fans zu schröpfen? Bietet das Livedokument objektiven Mehrwert? Vielleicht muss man zuerst begreifen, welchen Stellenwert dieses Konzert im musikalischen Schaffens Hacketts einnimmt. Einem Mann, der bei Genesis immer nur die zweite Geige spielen und sich musikalisch kaum einbringen durfte, denn die endgültigen Entscheidungen lagen immer bei Banks, Rutherford und Gabriel – eine Machtstruktur, an der auch Wilson verzweifelte. Mit GENESIS REVISITED ist es ihm nun endlich möglich, alles so auf seiner Gitarre zu spielen, wie er es immer schon tun wollte. Sein Instrument röhrt, schwebt, singt, fast immer songdienlich. Hackett haucht den Stücken auf diese Weise neues Leben ein. „The Musical Box“? hat beinahe Metalqualität. „The Return Of The Giant Hogweed“ – das Gitarrensolo stimmt. „Fly On A Windshield“ überzeugt restlos, verkommt jedoch ein ganz klein wenig zum Präsentationsvehikel. Um sich davon zu überzeugen, das Hackett als Gitarrist sträflich unterbewertet wird, höre man sich einmal „Firth Of The Fifth“ in der vorliegenden Version an. Danach richte man seine Ohren auf die Genesis-Version von LIVE OVER EUROPE mit Daryl Stuermer. Es wird deutlich: Zwischen technischer und emotionaler Musikalität liegen Welten.
Abseits von Hacketts Gitarrenarbeit finden sich in den Versionen von „Dancing With The Moonlit Knight“ und „Afterglow“ Momente, deren Erhabenheit kaum in Worte zu fassen ist. Ned Sylvans Stimme mag nicht an Peter Gabriel heranreichen, doch auf „Broadway Melody Of 1974“ und „Afterglow“ zeigt er eindrucksvoll, dass mehr in ihm steckt als ein mittelmäßiger Gabriel-Klon (wer einen gute Kopie sucht, sollte mal bei Shaun Guerins reinhören). Die Überraschung des Abends wohnt jedoch „Carpet Crawlers“ und „I Know What I Like“ inne: Ray Wilson singt. Vor 5.000 Menschen. Sowohl für ihn als auch für Hackett dürfte es sich hier um den größten Auftritt seit mindestens 15 Jahren handeln. So trifft die dritte Genesis-Geige auf die zweite, ein historischer Moment. Wilson beweist, dass er immer noch zu den Topsängern gehört. Seiner warmen Stimme wohnt eine Qualität inne, die gerne übersehen wird und die bereits das eher durchwachsene CALLING ALL STATIONS veredelte (ein Album, dessen Ruf schlechter ausfällt, als sein tatsächliche Inhalt). Ginge es nach dem hiesigen Rezensenten, wäre er hier nicht nur Gastsänger. Lobend soll auch Rob Townsend erwähnt werden. Sein Einsatz von allerlei Flöten und des Saxophons erweisen sich hin und wieder als Glücksfall. Besonders die Querflöte erinnert eher an Ian Anderson als an Peter Gabriel – ein Schmankerl für Jethro-Tull-Fans.
Alles in allem präsentiert Hackett mit GENESIS REVISITED: LIVE AT THE ROYAL ALBERT HALL eine Band in guter Spiellaune, dokumentiert einen für ihn sicher enorm wichtigen Auftritt, denn seine Solokonzerte wurden von der Masse leider nie mit Besucherstürmen gewürdigt, was ob ihrer Qualität, unverständlich erscheint. Lediglich der Wegfall der Eigenkompositionen überrascht, verliehen sie doch dem Vorgänger eine gewisse Eigenheit, zeigten, dass auch Hackett erheblich zum Genesissound beitrug. Über manche Neuinterpretation darf gestritten werden, doch findet man kaum wirklich enttäuschende Songs, von „Suppers Ready“ (Problem: Ned Sylvans limitierte Stimme) und „I Know What I Like“ (Problem: Der Song an sich, der durch ein albernes Arrangement noch schlimmer klingt als im Original) abgesehen. Genesis Fans wird es gefallen, Neulinge hingegen sollten lieber zu den Originalalben greifen.
Ohr d’Oeuvre: Broadway Melody Of 1974 / Carpet Crawlers / Fly On A Winshield / The Musical Box / Uniquit Slumbers For The Sleepers / Firth Of The Fifth / The Fountains Of Salmarcis
VÖ: 27.06.2014, Inside Out
Tracklist:
01 Dance On A Volcano
02 Dancing With The Moonlit Knight
03 Fly On A Windshield
04 Broadway Melody Of 1974
05 Carpet Crawlers
06 The Return Of The Giant Hogweed
07 The Musical Box
08 Horizons
09 Uniquiet Slumbers For The Sleepers
10 In That Quiet Earth
11 Afterglow
12 I Know What I Like
Disc 2:
13 Firth Of Fifth
14 Ripples
15 The Fountain Of Salmacis
16 Supper’s Ready
17 Watcher Of The Skies
18 Los Endos
Gesamteindruck: 7,5 / 10