Der Meister des Progressive Rock Steven Wilson präsentiert im ausverkauften, bestuhlten E-Werk vor mehr als 1.000 Fans nichts weniger als ein neues Gesamtkunstwerk aus Ton und Bild. Heute gibt es den Großteil des neuen Albums HAND. CANNOT. ERASE. und ein paar Ausflüge in die musikalische Vergangenheit.
Zunächst aber nutzt Wilson die herzliche Begrüßung durch das Kölner Publikum (mit ihm besonders verbunden seit dem ersten Deutschland-Konzert von Porcupine Tree, welches 1999 im Kölner Underground vor unter 100, allerdings begeisterten Zuhörern stattfand), um erst mal die britische Fanbase zu dissen, die wohl nicht ganz so entgegenkommend war: „Thank you! Actually some enthusiasm!“
Der Enthusiasmus wird gefüttert: Steven Wilson, Marco Minnemann (Schlagzeug), Adam Holzman (Tasten), Guthrie Govan (Gitarre) und Nick Beggs (Bass) überzeugen fast zwei Stunden lang mit einer Performance, die live von wenigen erreicht wird.
HAND. CANNOT. ERASE wurde inspiriert durch eine wahre Geschichte: Die Londonerin Joyce Carol Vincent lag jahrelang zwischen verpackten Weihnachtsgeschenken tot in ihrer Wohnung. Sie wurde als klug, schön, kontaktfreudig beschrieben – und sie verschwand von der Bildfläche ohne Konsequenzen. HAND. CANNOT. ERASE. stieg auf Platz 3 in den deutschen Charts ein. Nach diesem Album scheinen die Erfolgsaussichten endgültig nach oben offen.
Steven Wilson, der unter anderem soziale Netzwerke von Herzen hasst und in ihr Gegenteil umdeklariert, stinken solche Storys. Die kreative Umsetzung seiner Kritik an den Verhältnissen verlangt den Zuhörern einiges ab: Melodiöse Stücke, die mit der Umschreibung „Ballade“ schlicht unterversorgt sind wechseln mit Headbanging-tauglichen Rock-Gewittern. Es gibt etliche Zitate aus Rock- und Popgeschichte, die so selbstverständlich daherkommmen, dass sie nicht im mindesten maniriert wirken.
Wilson entschuldigt sich dafür, dass die kongeniale Sängerin Ninet Tayebs heute Abend vom Band kommen muss, weil sie ein Baby bekommen hat. „That’s no excuse!“ flachst er und räumt dann sofort ein, dass das eine sehr gute Entschuldigung ist. Das Publikum verzeiht gern und geniesst den Song.
Aus dem riesigen Repertoire von Wilson und Porcupine Tree (nachzulesen bei Uwe Häberle – Voyage PT-This trip is really necessary auf über 500 Seiten) gibt es heute dramaturgisch klug plaziert „Lazarus“, „Harmony Korine“, „The Watchmaker“, „Sleep Together“ (Fan-Gossip spekulierte seinerzeit über den Pitch für einen James-Bond-Titelsong) und „The Raven that Refused to Sing„.
Begleitet wird alles mit Filmen, Animationen und Projektionen, die zum Teil einen dünnen Gazevorhang projiziert werden, hinter dem die Band spielt. Die exzellente Lichttechnik des E-Werk unterstützt den Auftritt bestens. Der Handlungsbogen des Konzeptalbums endet visuell mystisch/optimistisch: Im Herbst soll es für sechs deutsche Städte zusätzliche Tournee-Termine geben, deshalb hier keinen Spoiler.
Standing Ovations, exzessiver Jubel: Nach der einzigen Zugabe „The Raven that Refused to Sing“ läuft der Abspann: Auf den Gazevorhang werden die Namen aller beteiligten Kreativen projiziert. Großes Kino, Mr. Wilson.
Setlist:
First Regret/3 Years older
and Cannot Erase
Perfect Life
Routine Index
Home Invasion/Regret
Lazarus
Harmony Korine
Ancestral
Happy Returns/Ascendent Here
The Watchmaker
Sleep Together
The Raven that Refused to Sing
Fotos: Daniel Berbig (Beitrag/Archiv)
Fotos: Dajana Winkel (Galerie)