Old Gray – Slow Burn
Old Gray aus New Hampshire legen mit SLOW BURN ihren lang erwarteten Nachfolger zum 2013’er Album AN AUTOBIOGRAPHY vor und sorgen aus mehreren Gründen für ungläubiges Staunen.
Gerade mal etwas über 20 Minuten lang haut die Band dem Hörer Songs oder teilweise auch Songskizzen um die Ohren, die eine Brachialität in sich tragen, mit der man so nicht rechnen konnte und die einen beim Zuhören auf das Äußerste fordern. Jegliche klassische Emo-Anleihen wie man sie auf dem Vorgänger Album vorfand, weichen einem infernalen Lärm. Die Hoffnung, dass das Album musikalisch an AN AUTOBIOGRAPHY anknüpft, schwindet, je weiter es auf das Ende der intensiven 20 Minuten zugeht. Vielmehr macht sich Hoffnungslosigkeit breit. Die Platte wirkt wie eine Therapiesitzung der aufwühlenderen Sorte. Der Blick auf die Liner Notes von Slow Burn bestätigen dies, ist dort doch zu lesen: „I wish this record didn’t have to be written”. Diese Hoffnungslosigkeit spiegelt sich auch in den Texten von Sänger und Songschreiber Cameron Boucher wider. Immer wieder sind es Themen wie der Verlust von Freunden, Selbstmord oder Depressionen, die Boucher in seinen Songs beschreit. So stellt er im Song “Everything Is In Your Hands” lakonisch fest: “I can’t handle any more phone calls telling me another friend is dead”.
SLOW BURN wimmelt nur so von Textpassagen, die die Hilflosigkeit im Umgang mit dem Übel, welches mit und um Cameron Boucher herum passiert, zum Ausdruck bringt. Die musikalische Untermalung ist es jedoch, die – ohne Übertreibung – fast körperliche Schmerzen beim Hören der Platte hervorruft. Man darf gespannt sein, wie die Fans von Old Gray auf das Album reagieren werden, denn eines ist sicher: leicht macht die Band es einem mit SLOW BURN nicht. Auch wenn es sich hier „nur“ um eine Platte handelt, sei vor den Risiken und Nebenwirkungen, wie hochgradiger Verstörung, gewarnt.
VÖ: 09.12.2016, Flower Girl Records (US), Dog Knights Productions (UK), https://oldgray.bandcamp.com
Ohr d’Oeuvre: Everything Is In Your Hands/ A Letter For Zach/ On Earth, As It Is In Heaven
Gesamteindruck: 7/10
Tracklist: Pulpit/ Communion/ Blunt Trauma/ Everything Is In Your Hands/ Razor Blade/ I/ Like Blood From A Stone/ II/ Given Up To You/ A Letter For Zach/ On Earth, As It Is In Heaven
(at)
Moderat – Live
Die Musik einzelner Bands bahnt sich manchmal auf seltsame Weise den Weg, erst in das Ohr und dann in das Herz des Hörers. Moderat ist so ein seltsamer Fall! So richtig Beachtung fand die Gruppe weniger mit den ersten beiden Alben, als viel mehr mit der Vertonung von Krieg und Frieden durch das Moderat Mitglied Sascha Ring aka Apparat. Als Folge wuchs das Interesse an ALBUM II des Musikerkollektivs schlagartig. Dabei agierte die Band immer wie es der Refrain des Songs „Bad Kingdom“ vorgab:
„This is not what you wanted, not what you had in mind“
Nun veröffentlichen Bronsert, Ring & Szarzy einen Mitschnitt des Berliner Konzerts vom Juni 2016. Wer weiß, welche Wirkung ein Konzert von Apparat haben kann, ist sich sicher, dass eine Moderat-Show nur gut sein kann. Aber die Frage, die sich bei nahezu jedem Livealabum stellt – schafft die Band es die Live-Atmosphäre auf einem Tonträger zu konservieren?
Nachdem das Album beim ersten Hören einen positiven Eindruck hinterlässt, steigert es diesen mit jedem Hördurchgang und schafft es den Lauschenden immer tiefer in seinen Bann zu ziehen, um ihn schlussendlich vollends umzuhauen. Die anspruchsvollen Studiostücke werden perfekt in den Livekontext transferiert. Die Beats kommen straight, tough und punktgenau. Die Wirkung, welche die eingestreuten Samples unter den Konzertbesuchern gehabt haben dürften, lässt sich auf der Scheibe bestenfalls erahnen und der Gesang fügt sich perfekt ins Arrangement der Stücke ein.
Den Auftritt von Team Bad Kingdom – wie sich Moderat selbst nennen – sollte man auf jeden Fall laut und unter Verwendung einer Schlafbrille genießen. So isoliert vom Hier und Jetzt, vermag es die Platte, den Hörer in das Berliner Velodrom zu transferieren. Die Rechtfertigung gegenüber den Nachbarn für die gestiegene Lautstärke, sollte schlicht die Qualität der dargebotenen Musik sein. In Gänze ist LIVE bisher schlichtweg das Live-Album des Jahres und bietet neben der perfekt eingefangenen Atmosphäre ebenso eine treffende Übersicht über die Songs von Moderat. Unbedingt kaufen, hören und glücklich sein und schon mal die Vorfreude auf die kommenden Shows 2017 auskosten!
VÖ: 26.November 2016, Monkeytown Records, http://www.moderat.fm
Ohr d’Oeuvre: Bad Kingdom/ Animal Trails/ Reminder/ Rusty Nails/ No22
Gesamteindruck: 9,5/10
Tracklist: Intro/ Ghostmother/ A New Error/ Intruder/ Bad Kingdom/ Animal Trails/ Reminder/ Eating Hooks (Siriusmo Remix)/ Rusty Nails/ The Fool/ Last Time/ No.22
(kof)
Angepriesen als „Speerspitze“ des verkopften Müsli Raps, bieten Ben Pavlidis (Ohrbooten) und Shaban (Käptn Peng) auf IDENTETRIS einen Weltmusikmix, auf dem die Reime und Lyrics mit viel Witz und Verstand um die aufgedrückten und selbstgewählten Identitäten kreisen. Ein Trip zwischen WG – Küche, Funkhaus Europa und dem frühen Vaterglück.
Die Geschichte von Pavlidis begann auf einem Freestyle Rap 2013, bei denen Käptn Peng MC Shaban und Ohrbooten Sänger Ben Pavlidis merken, dass man sich musikalisch ganz gut ergänzt. Dazu kommen Probleme bei den Ohrbooten, die auch im Abschlusstrack „Erinnere“ thematisiert werden und die Motivation des Frontmannes stärkten, sich neuen Aufgaben zu widmen. Herausgekommen ist ein Rap – Album, was in der Musik ziemlich puristisch ist und in den Texten dem Wortwitz und der Akrobatik der letzten Peng Sachen in nichts nachsteht. Ähnlich wie Peng, schaffen es Pavlidis, trotz kritischer Selbstreflexion nicht in steifer Ernsthaftigkeit zu versinken oder vom Pathosfels wie so viele deutsche Rapper erdrückt zu werden. Vielmehr verfügen sie über die notwendigen Reim – Skills, um immer wieder krude Brücken zwischen den inneren Gemütszuständen und den Veränderungen in der Umgebung zu schlagen. Diese werden mal mehr, mal weniger ernst beleuchtet, aber immer mit der notwendigen Leichtigkeit im Flow der Worte, die leider vielen anderen abgeht. Sei es die Entfremdung vom eigenen Kiez in „Traumzeit“ oder die zwischen Zynik und Witz schwingende Frage nach den „wahren Problemen“. Gedankeneinblicke und Sehnsüchte, die jeder junge Erwachsene kennen mag und die von Pavlidis gekonnt vertont werden. Leider wird es manchmal dann doch etwas zu esoterisch wie in „Ich sehe was“ oder „Es sind“. Die unterlegte Musik bleibt meist eher puristisch, fokussiert auf Bass und Beats. Für die notwendigen Auflockerungen, sorgen Samples, die einen Teil des Albums wie die Vertonung von Super Mario Kart klingen lassen – wie im Titelstück „Identitetris“. Zum anderen durch orientalische Klänge, die Ohrbooten Kollege Matze mit seiner Cümbüsh (eine Art Banjo aus der Türkei) und Gitarre beisteuert. So bricht das Album den eigenen Hip-Hop Fokus auf und dürfte viele Hörer finden, die neben der Selbstfindungslyrik von dem Funkhaus Europa – Touch angelockt werden. Insgesamt eine gute Platte für die älter gewordene Käptn Peng WG – Küchenbesatzung, die zu verkopft für den Punch und zu verquert für die Karriere ist.
VÖ: 11.November 2016, Kreismusik, https://www.facebook.com/Pavlidis-1725263784387676
Ohr d’Oeuvre: Identitetris / Teilchen/ Erinnere
Gesamteindruck: 7,5/10
Tracklist: Mutterschiff/ Teilchen/ Zimok/ Die wahren Probleme/ Identitetris/ Es sind/ Ich sehe was/ Schlaflos/ Traumzeit/ Licht/ Einnere
(pd)
Todd Anderson – Die Stille schreit nicht mehr
Der kleine Todd Anderson ist erwachsen geworden. Nach einer Pause aus persönlichen Gründen von insgesamt sieben Jahren meldet er sich nun zum dritten Mal zurück, denn DIE STILLE SCHREIT NICHT MEHR.
Der kleine Todd kam aus einem wohlbehüteten Elternhaus. Er wuchs auf inmitten von finanzieller Sicherheit und gesellschaftlicher Ordnung begleitet von dem Druck, den ein Zweitgeborener in diesen Zeiten halt zu ertragen hat. Ein jeder einzelner Schritt in seinem noch jungen Leben schien vorgezeichnet.
Bis, ….ja bis in der Oberstufe ein einschneidendes Erlebnis dafür sorgte, dass alles, an das er glaubte, eine Generalüberholung erhielt. Bis dahin hatte er noch immer still sein Dasein gefristet, während Andere ihn überholten. Zu sehr sorgten anderweitige Verpflichtungen und mangelndes Selbstbewusstsein dafür, dass Todd sein Licht unter den Scheffel stellte.
Doch seine größte Angst, sein Leben nicht ausreichend gelebt zu haben, sorgte dafür, dass er nicht schon wieder seinen ZUFLUCHTSORT aufsuchte, als seine BOTENSTOFFE STREIKTEN, sondern dass er sich aktuellen Missständen in den Weg stellte.
Und so hörte er Bands wie Maths (RIP) und For Dire Life Sake (RIP), machte sich Gedanken über Dinge wie die Stille oder das Gefühl der Dämmerstunde. Das nagende Gefühl der Ungerechtigkeit ließ ihn nicht los und so kam es, dass er eines Tages einfach aufstand, und versuchte die Welt zu verändern.
Daher an dieser Stelle ein Aufruf.
STEHT AUF.
SEHET MIT ANDEREN AUGEN.
SEHET DIE WELT MIT TODD ANDERSONS AUGEN.
VÖ: 02. Dezember 2016, Midsummer, Cargo Records, http://todd-anderson.blogspot.de/
Ohr d’Oeuvre: Surfen / Dämmerstunde
Gesamteindruck: 8,5/10
Tracklist: Elchtier / Ausbruch / Nebelpfade / Surfen / Dämmerstunde / Leuchtturm / Dinge / Vermissen / Stille / Dünenland
(triadé)