The Tidal Sleep – Be Water
Was macht man, wenn bereits die letzte Platte von The Tidal Sleep ganz arg an der Höchstwertung gekratzt hat, man aber auf dem neuen Longplayer BE WATER den Eindruck hat, die Band hat sich noch einmal ein Stück weiterentwickelt?
Das hohe Niveau des Vorgängers halten The Tidal Sleep auf BE WATER nahezu ausnahmslos. Sie fügen ihrem druckvollen Post HC jedoch an der ein oder anderen Stelle Nuancen zu, die im ersten Moment überraschen, dem Album in ihrer Konsequenz jedoch über die wenigen Längen hinweghelfen. Längen? Gemach, denn Längen ist in diesem Zusammenhang gar nicht einmal negativ gemeint. Wer wie The Tidal Sleep über Jahre Post HC auf einem derart konstant hohen Niveau spielt, wird bei dieser Art der Musik irgendwann zwangsläufig vor der Schwierigkeit stehen, wie die oft und allseits geforderte Weiterentwicklung von Album zu Album auszusehen hat. Viele Bands scheitern an diesem Unterfangen, weil sie sich neu erfinden, den vor den Kopf gestoßenen Fans erklären, ihr bestes Album der Bandgeschichte vorgelegt zu haben, um im Anschluss von der Bildfläche zu verschwinden. The Tidal Sleep tun dies nicht. Sie erweitern ihren eh schon erhabenen Sound durch Akkordeon-Klänge und setzen direkt zum Beginn der Platte einen überraschenden Akzent, indem sie die ersten gut 30 Sekunden von BE WATER mit einer akustischen Gitarre beginnen. Der erste Schrecken, dass die Band sich auf Album drei tatsächlich neu erfunden hat, ist dann aber nach genau 32 Sekunden verflogen. Ab Sekunde 33 wird man vom typischen Tidal Sleep Sound überrollt.
Was besonders auffällt, ist, dass die Songs noch stärker als beim Vorgänger VORSTELLUNGSRAFT von der Rhythmusfraktion angetrieben werden. Natürlich schmeißt die Band auch auf BE WATER mit meterhohen Gitarrenwänden um sich, aber durch das noch präsentere Schlagzeug und den unfassbar treibenden Bass wirken die Songs noch mitreißender als auf früheren Outputs. Stand bei VORSTELLUNGSKRAFT in mehrfacher Hinsicht das Wavige im Vordergrund, wendet sich die Band auf BE WATER wieder mehr dem klassischen Hardcore zu, ohne jedoch das „Post“ völlig verschwinden zu lassen. Gerade durch die für The Tidal Sleep eher ungewöhnlich vielen Clean Parts von Sänger Nicolas wirken die Stücke weitaus fragiler als frühere Songs und erreichen eine noch stärkere emotionale Intensität.
Bestes Beispiel hierfür ist sicherlich Footsteps, der letzte Song auf BE WATER. Beginnend mit einem klassischen Post Rock Riff setzt ein Monolog von Sänger Nicolas ein, der von einer wundervollen weiblichen Stimme im Refrain erwidert wird. Kurz bevor man sich in diesem wunderschönen, schon fast balladesken Song verloren hat, wird man nach knapp drei Minuten von dem markdurchdringenden Geshoute auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und erwischt sich bei dem Gedanken, wie gut es ist, dass bei aller Schönheit der ersten drei Minuten, der Song eine Tidal Sleep-typische Wendung nimmt, die einen für die restlichen zwei Minuten mit einer Ganzkörpergänsehaut zurücklässt. Man merkt dem Album die Einflüsse der Touren seit 2013 an. So ist es nicht verwunderlich, dass bei Sogas – einem der stärksten Stücke auf BE WATER – Cándido Gálvez von Viva Belgrado, Tourmates, und einer der großartigsten Post HC Bands im Moment, einen Teil des „Gesangs“ beisteuert.
Wie schön, dass The Tidal Sleep sich nicht neu erfunden haben. Wie schön, dass sie sich trauen, mal einen Gang zurückzuschalten, neue Stilmittel einbauen und der Stimme von Sänger Nicolas etwas mehr Raum gewähren. Wie schön, dass sie trotz allem immer noch eine absolute Ausnahmeband sind, die weiß, an welchen Stellschräubchen sie drehen muss, um den Hörer immer wieder aufs Neue irgendwo zwischen sprachlos, bewegt und wütend zurückzulassen. Auch 2017 heißt es, die Referenz für Post HC aus hiesigen Gefilden sind The Tidal Sleep mit ihrem großartigen neuen Album BE WATER.
VÖ: 26.05.2017, Holy Roar Records, This Charming Man Records, https://thetidalsleep.bandcamp.com/album/be-water
Ohr d’Oeuvre: Poisons/ Sogas/ Footsteps/ Undertows
Gesamteindruck: 9/10
Tracklist: Bandages/ Spills/ Words/ Sogas/ Hearses/ Undertows/ Poisons/ Collapses/ Changes/ Wreckages/ Footsteps
(at)
Cigarettes After Sex – Cigarettes After Sex
Das kommt also dabei raus, wenn man seine ersten Aufnahmen des Nachts in den langen Fluren der Universität von El Paso macht. Man kann förmlich noch den Nachhall der Nacht hören. Ein bisschen auch das „Pssst, nicht so laut, wir müssen ruhig sein“.
Angenommen man träfe den bärtigen Greg Gonzales, Mastermind der Band Cigarettes after Sex auf der Strasse, würde man erstmal nicht diesen weichen romantisierten Sound vermuten, den die Wahl-New-Yorker da auf ihr erstes Album gestreichelt haben. Das gleichnamige, am 9. Juni erscheinende Debut CIGARETTES AFTER SEX ist nämlich von vorne bis hinten eine warm-wohlige Streicheleinheit, voll gepackt mit tiefen Gefühlen vom Lieben, Leben, Verlassen, Verlassen werden und wieder Lieben, ohne Scheu, einfach ehrlich und direkt. Die Platte ist so extrem verlangsamend, dass Gonzales selber sagt für ihn sei es ein grosses Kompliment, wenn seine Musik dem Zuhörer beim Einschlafen helfe. Mitnichten ist es aber eine Einschlafplatte – auch wenn das sehr gut passieren kann – vielmehr reagiert sie magnetisch auf sehnsüchtig nostalgische Romantik.
Bis zur Perfektion verdichten die Musiker auf CIGARETTES AFTER SEX ihre zehn Stücke zu einem rundum samtigen Gefühl in Herz und Hirn, voller Hoffnung. Über sehr minimalistische Klangwelten aus verhallten Gitarrensounds, schleichenden Bassläufen, hier und da Synthiklängen und einem sich dahin schleppenden Schlagzeugspiel legt sich der androgyne, leise, aber dennoch kraftvolle Gesang von Greg Gonzales, wie eine tröstende Umarmung. Man mag bei diesem Tempo kaum glauben, dass neun der zehn Stücke in nur drei Tagen im Studio eingespielt wurden, lassen sie beim Hören doch zumindest die gefühlte Zeit mal eben so still stehen.
Das Nichtraucherschutzgesetz hat ja durchaus positiven Nutzen. Im Fall der einen Zigarette nach dem Sex sollte der Gesetzgeber aber – egal an welchem Ort – das Rauchen sofort wieder erlauben. Die Welt wäre eine friedlichere und definitiv entspanntere. Cigarettes after Sex gehen dieses Jahr auf große Festival- und Konzerttour und machen am 6.11.17 auch in der Kulturkirche in Nippes halt. Kinder, packt die Kippen ein und raucht für eine bessere Welt – aber erst danach.
VÖ: 9. Juni 2017, Partisan Records, http://www.cigarettesaftersex.com
Ohr d’Oeuvre: K./ Young & Dumb/ Truly/ Each Time You Fall In Love
Gesamteindruck: 8/10
Tracklist: K./ Each Time You Fall In Love/ Sunsetz/ Apocalypse/ Flash/ Sweet/ Opera House/ Truly/ John Wayne/ Young & Dumb
(gb)