Man könnte die Beschreibung des Abends vermutlich bis ins Unendliche ziehen, fällt einem doch zu fast jedem Kettcar- oder Tomtelied eine Anekdote aus der verblichenen WG Küche ein. Beim Hören der Songs hatte man immer die Faust in der Tasche und zugleich einen Kloß im Hals. Das gelang und gelingt wohl kaum Bands besser als diesen beiden. Mit solchen Gedanken steht man nicht allein in der Schlange am Eingang zum Großmarktgelände, auf dem das Minifestival zum 15ten Labelgeburtstag stattfindet. Das Publikum, leicht gesetzt – Alter 30 bis 45 plus – hat mit ziemlicher Sicherheit auch 1000 Anekdoten zu erzählen.
Leider machen die HVV und die eigene Schusseligkeit einen Strich durch die Rechnung und Fortuna Ehrenfeld wird verpasst, was bedeutet, dass man vom Chef nur noch alkoholfreies Bier und einen grimmigen Blick bekommt. Läuft doch die neueste Grand Hotel van Cleef Entdeckung mit seinem Debüt Hey Sexy bei ihm rauf und runter. Na ja…. Trotzdem kommen wir pünkltich zu Gisbert zu Knyphausen, auch so ein Stehaufmännchen wie die später auftretenden Hauptakteure. Nur begleitet von einem Xylophonspieler, wirkt er anfangs auf der Festivalbühne etwas verloren. Doch eigentlich reicht ein Lied wie „Kräne“, um den ganzen Platz zum Schwelgen zu bringen. Dazu gesellt sich immer wieder dieses wunderbare Understatement eines Typen, der die heimische Singer-Songwriter Szene wieder auf die Karte gebracht hat. Nur das englischsprachige Abschlusslied hätte er sich sparen können. Dafür beginnt es zu regnen und soll auch für den Rest des Abends nicht mehr aufhören. Wassermassen fallen vom Bühnendach und zum ersten Mal ist da die klammheimliche Freude, nicht in der ersten Reihe zu stehen. Die Regenponchos, die von diversen Firmen als Werbegeschenke gereicht werden, sind auch in „null komma nichts“ weg. Da das Mitbringen von Regenschirmen wegen Sicherheitbedenken verboten ist (in Hamburg!!!), verwandelt sich der Platz in eine orange, gelb, grüne Plastikmasse.
Ein wenig will man murren, 1 1/2 Stunden Umbaupause bis Kettcar die Bühne betreten sollen. Aber es ist ein Abend voller Überraschungen. So betritt der Seemanns – Chor Hannover die Bühne. Ein Trupp von rund 40 rührigen, älteren Herren, die in den kommenden 20 Minuten im Shantystyle St.Pauli Fanlieder und van Cleef Klassiker zum Besten geben. Als Kölner denkt man ja direkt, was ist denn hier los? Karneval in Hamburg? Aber es wirkt! Beim abschließenden „In Hamburg sagt man Tschüß“, schunkelt der ganze Platz.
Dann also Kettcar und Marcus Wiebusch sagt spartanisch vor jedem Lied nur „Und das geht so…“, wie er es gefühlt seit 100 Jahren macht und 1000 – mal zu wenig in den letzten vieren. Wirkte die Band bei Ihren letzten Auftritten vor der Pause etwas kraftlos, ist sie heute Abend berührend und kraftvoll. Sie entwickelt diese ganz eigene Mischung aus Wucht und Melancholie, wie es wohl nur wenige Bands schaffen. Los geht es direkt mit „Deiche“ und es wird augeblicklich offensichtlich, dass die kommenden 90 Minuten ein reines Heimspiel werden. Die Rollenverteilung ist dabei allerdings etwas überraschend. Wiebusch wirkt irgendwie angespannt, redet kaum und wirkt hochkonzentriert. Für die Auflockerung ist Reimer Bustorff, Bassist und Labelmitgründer zuständig. Der Schlacks erzählt mit einigem Stolz die DIY Anfangsgeschichte des Labels, wie Mutter Wiebusch („Danke Gisela“) die Finanzierungslücke schloss. Er erzählt von seiner Kindheit in Hamburg-Niendorf und seiner Bekanntschaft mit Stefan Effenberg: „Der sagte immer nur, Ihr und Eure Musik. Ihr müsst Fussball spielen und Kung Fu Filme schauen!“. Die Stimmung der Band wirkt insgesamt locker und hochmotiviert, wieder die Songs auf das Publikum abfeuern zu können. Das Set wird beherrscht von den Klassikern, vor allem der ersten beiden Alben. Einige Lieder werden mit Streicherquartettbegleitung gespielt, wovon „Balkon gegenüber“ überrascht, dem Wiebusch eine zweite Strophe gegeben hat aus der Sicht des Verlassenen auf eben dem anderen Balkon. Emotional ist der Moment als das van Cleef Banner fällt und die Band ihre neue Single „Sommer 89“ vor dem dazugehörigen Video spielt. Ein ausuferndes, großes Epos über einen Hamburger der DDR Bürgern bei der Flucht half. Ein wenig erinnert es an die Sachen, die Wiebusch auf seinem Soloalbum KONFETTI gemacht hat. Das Publikum, das eh schon selig ist, drängt trotz des Regens zur Bühne, singt und tanzt mit. Als dann zur Zugabe der Sänger erst solo „Mein Skateboard bekommt mein Zahnarzt“ darbietet, möchte man ihn fast knuddeln. Auch bei ihm scheint die Anspannung abgefallen zu sein: „Wir sind Kettcar und wir sind wieder da!“.
Dann kommt der „Star des Abends“ (Marcus Wiebusch), Thees Uhlmann oder auch der Bruce Springsteen der norddeutschen Tiefebene samt Band auf die Bühne. Ohne große Anlaufschwierigkeiten steigen sie in die Songs ein und es scheint dem Frontmann sichtlich Spass zu machen wieder auf einer Konzertbühne zu stehen. Vielleicht war sein Ausflug in die Literatur ja der richtige Ausgleich, um die Akkus wieder aufzuladen. Aber bevor sich die Gedanken im mittlerweile triefnassen Kopf von solcher Küchenpsychologie ablenken lassen, schwoft und singt man lieber zu „Delta“ oder „Zugvögel“. Und auch Uhlmanns Auftritt enthält diverse Überraschungen. Da ist einerseits die Unterstützung der Horny Horns aus Haldern, bekannt vom gleichnamigen Festival bei einigen Songs, zum anderen entert nochmal der Shantychor die Bühne, um Uhlmann bei „So ist Fussball“ zu unterstützen. Beim Fansong über den FC St.Pauli dröhnen immer wieder langegzogene „Hooray, Hooray“ Rufe über das Gelände und sorgen für entsprechende Gänsehaut. Leider läßt die Konzentration des Publikums wegen des Regens immer mehr nach, aber auf der Bühne gibt die gut abgestimmte Band alles. Auch Uhlmann schwelgt ein wenig in Erinnerungen: „Ich war ja oft beim Wiebusch an der Tür, der fragte dann immer: Na Thees haste Hunger…“, Familie eben. Irgendwie weiß man nie, ob der Typ völlig größenwahnsinnig ist oder einfach nur ein ein großes Mitteilungsbedürfnis hat. Aber solange er Songs schreibt wie „Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf“ oder auch das Tomtecover „Ich sang die ganze Zeit von Dir“, darf er alles.
Klitschnass geht es dann ins Knust, wo Young Rebel Set rund 1 1/2 Stunden Hits der 60er und 70er covern. Stilecht in Halskragenpullovern und mit Beatfrisuren. Alle tanzen bis sie trocken sind. So und jetzt Prost auf die nächsten 15 Jahre.
Sehr schön geschrieben, Danke. Ich bekomm direkt wieder Gänsehaut. Es war so großartig!