Helgen – Halb oder gar nicht
Das Helgen Grundsympathen sind, war spätestens seit ihrem Auftritt im Stereo Wonderland im letzten Herbst klar. Wer mit deutlich erkennbarem Hangover noch gute Laune verbreiten kann und so wunderbare Melodien spielt, muss ein Guter sein. Auf HALB ODER GAR NICHT präsentieren sie nostalgisch angehauchten Indiepop, der seine Lücke im heimischen Musikzirkus finden wird.
Ist das einfach eine genial lässige Adaption des 90er Jahre Slackertums, gepaart mit funkigem Indierock a la Cake und Sterne oder einfach nur Wohlfühlmusik, gespielt von ein paar besserwisserischen Germanistikstudenten, die Spaß an Wortwitzen haben? Vielleicht sind Helgen aus dem Hamburger Umland einfach nur ein unheimlicher Glücksfall. Wenn die heisere Stimme von Sänger Helge in Liedern wie „Nackt“ einfach nur die Karten offen auf den Tisch legt und zugibt „Ich kann Dich nicht belügen“ schmilzt man unweigerlich dahin. Dies ist untermalt mit lässigen Gitarren, die über zu viel Hall verfügen und einem Glockenspiel, was viel zu süß für die Jahreszeit ist und trotzdem winkt hier nicht der Pathoshammer am Firmament, sondern rauscht ein bittersüßes Wohlgefühl durch den Magen. Man merkt der Platte an, dass das Trio über eine ausgeprägte Liveerfahrung verfügt und das Wissen, wie man die richtigen Akzentuierungen setzt, um den Hörer zu packen. Die Songs wirken aus einem Guss, auch wenn Sie verschiedenste Einflüsse und Elemente zu dieser plüschschweren, melancholischen Wohlfühlmischung zusammenpressen, wie man sie sonst von der Höchsten Eisenbahn oder Gisbert zu Knyphausen kennt. Nur fällt der musikalische Blick von Helgen eher über den Atlantik und schwelgt leicht nostalgisch im 1990er Indiepop und 1960ties Folk, wirkt aber nie aus der Zeit ausgefallen. Dazu paart sich ein Wortwitz, den man sonst von der bereits angesprochenen Höchsten Eisenbahn kennt, wobei Helgen zerrissener sind, direkter sich meist nicht hinter Bildern und Geschichten Dritter verstecken, sondern offen ihre Gefühle Preis geben („Hamburg & Amsterdam“). Dabei haben Sie wohl die beste Feindhymne seit Tocotronic geschrieben mit „Lass uns Feinde sein“. Das sind Momente, in denen Helgen ihrer zynischen Seite freien Lauf lassen, die man kaum erwartet hätte bei der zuvor regierenden Romantik, die manchmal, an wenigen Stellen fast ins selbstmitleidige übergeht – aber zum Glück – ohne peinlich zu werden. Helgen bewegen sich im freien Feld zwischen der Tanzbarkeit Von Wegen Lisbeths, der Lehrerattitüde der Höchsten Eisenbahn und dem Knuddeltier, welches im Bett liegt, wenn man wieder viel zu alleine darin ist. Helgen holen einen aber daraus mit ihrer musikalischen Karamellmischung, die ab und zu an den Zähnen hängen bleibt.
VÖ: 4.August 2017, Chateau Lala
Ohr d’Oeuvre: Nackt/ Lass uns Feinde sein/ Fressneid
Gesamteindruck: 7,5/10
Tracklist: Anfang/ Fernsehturm/ Das Vergessnis/ Das Rätsel/ Gator/ Nackt/ Hamurg&Amsterdam/ Schlecht/ Lass uns Feinde sein/ Alles was wahr ist/ Zwölf/ Es passiert/ Paul&Peter/Fressneid/ Halb oder gar nicht
Heart Ovt – We’re not supposed
Heart Ovt aus Leipzig entspringen dem dortigen Hardcore Underground, was man teilweise im Songwriting hört, wie in dem schönen Post Rock Song „Ghostcloud“ oder dem Opener „29“, der gegen Ende geschickt Klaviermelodie und Screaming verbindet. Ansonsten wandelt die Debüt EP des Trios zwischen Indiepop mit leicht britischem Einschlag und 1990er Emo, der in Teilen an Ambrose und ähnliche Bands erinnert („Home is where your Heart is“) mit einem Hang zu großen Melodien. Das kann man sich gut anhören und macht Freude auf mehr, auch wenn die Produktion, die eine oder andere Kante mehr hätte vertragen könnte.
VÖ: 14. Juli 2017, Homebound Records
Ohr d’Oeuvre: Ghostcloud / 29
Gesamteindruck: 6,5/10
Earl Grey – We’re not supposed
Midsummer Records mausert sich langsam zum Trüffelschwein der deutschen Hardcore / Postcore Szene. Aktuellster Fund sind die Mönchengladbacher von Earl Grey, die ähnlich wie die Labelbuddies December Youth schon auf eine bewegte Livevergangenheit in Osteuropa seit Ihrer Debüt EP 2015 sowie in UK verweisen können. Und soll noch einer sagen in der Fohlenstadt tut sich nichts. Die Songs bewegen sich auf der neuen EP zwischen Midtempopunk al la Tribute for Nothing und hochmelodischen Emorock. Rundes Songwriting, Songs, die direkt in Herz und Bauch gehen, da sollte man live nach Ausschau halten.
VÖ: 21. Juli 2017, Midsummer
Ohr d’Oeuvre: Nothing / Never sleeps
Gesamteindruck: 7,0/10
Grade 2 – Break the Routine
Bereits als Teenager begannen die drei Jungs von Grade 2 von den Großen zu lernen und coverten fleißig frühe Punkgrößen wie The Stranglers und The Jam bevor man auf die Ochsentour ging und sich durch die lokalen Pubs mit eigenen Songs bis zum Plattenvertrag schuftete. Auf BREAK THE ROUTINE schimmern die Powerpop Wurzeln im dynamischen Bassspiel von Sid Ryan und dem mehrstimmigen Gesang durch. Songs wie „Turning the Tide“ oder „Falling Bridges“ bestechen denn auch das Tanzbein und durch ihre melodiösen Hooks das Hirn. Ansonsten spielen die Mittzwanziger, die der lieblichen Isle of Wight entstammen, staubtrockenen Oi! Punk ohne Rücksicht auf Verluste. Textlich schlagen sie dabei den großen Bogen von der reinen antikapitalistischen Kritik, die durch ihre Hymnenhaftigkeit in Songs wie „Mr Industry“ schon seit Jahrzehnten funktioniert zu der Verdummung der Massen durch den Multimediawahn. Die Platte macht Spaß, funktioniert durch ihre Schweinrockadaptionen auch außerhalb der Genregrenzen und sollte zum Anlass genommen werden, mal wieder die Docks zu schnüren und im örtlichen Punkschuppen ordentlich schwitzen zu gehen. Im Oktober u.a. in Essen, Osnabrück, Berlin und Leipzig auf Tour.
VÖ: 4. August 2017, Contra/Edel
Ohr d’Oeuvre: Heart of Gold / Pubwatch/ Turning the Tide
Gesamteindruck: 6,5/10