Einer der vielen Pluspunkte des Kaltern Pop Festivals ist, dass man ganz wunderbar eine Woche Urlaub mit einem der wahrscheinlich familiärsten Festivals im allgemeinen, etwas überhitzten „Schneller-Höher-Weiter“-Festivalbusiness verbinden kann. Mit etwas Glück – so wie in diesem Jahr – steigen die Temperaturen in Südtirol auch Ende Oktober nochmal auf 25°C Grad und man kann die Tage vor oder nach dem Festival herrlich am See, mit einem Glas Südtiroler Wein auf dem Marktplatz oder hoch über Kaltern auf dem etwas in die Jahre gekommenen, schaurig-pittoresken Mendelpass genießen. Abends trifft sich dann jeder – von den Festivalmachern, über bereits anwesende Besucher bis hin zu den Künstlern – im „Lustigen Krokodil“ und fachsimpelt über den Status Südtirols im Gesamtkontext Italiens, die Evolution von Krokodilen oder dreht bzw. knickt – wie Emil Svanängen von Loney Dear – die schlechteste Zigarette des gesamten Festivalwochenendes. Es geht gemütlich zu im beschaulichen Kaltern und man erwischt sich irgendwie dabei, wie man insgeheim hofft, dass dieses Festival nicht mehr wächst, da diese familiäre Atmosphäre einmalig ist.
Der Festivaldonnerstag startet mit dem großartigen Berliner Chor Cantus Domus und dem sizilianischen Singer-/Songwriter Fabrizio Cammarata in der Franziskanerkirche. Angekommen an der Kirche wartet bereits eine – für die frühe Zeit beachtlich große – Menschenmenge am Portal auf den Einlass. Beim wunderbar ruhigen Festivalauftakt, wobei Cantus Domus erst einige Stücke, die der Chor in der Vergangenheit u.a. mit Damien Rice aufgeführt hat, solo vorträgt, bevor er Fabrizio Cammarata bei einigen Stücken unterstützt, fällt auf, dass die Kirche mit einem äußerst heterogenen Publikum bis auf den letzten Platz gefüllt ist.
Im Anschluss daran zieht die Festivalkarawane ca. 150 Meter weiter ins Kalterer Vereinshaus, das in diesem Jahr vom englischen Singer-/Soulwriter Jordan Mackampa eröffnet wird. Wirkt er allein mit seiner Steepletone Gitarre zunächst etwas verloren auf der durchaus großen Bühne des Vereinshauses, ändert sich dieser Eindruck in dem Moment, in dem Mackampa beginnt zu singen: Diese soulig-warme Stimme und dieser stämmige Typ, der gerade in den Momenten, in denen das Publikum zum stimmlichen Begleiter seiner Songs wird, so warmherzig selig ins Publikum strahlt, dass man ihn am liebsten in den Arm nehmen würde. Auf den Songs des 23-jährigen Sängers aus Coventry liegt auf den ersten Blick eine Schwere, über die man sich – war man schon mal in seiner Heimatstadt – zunächst nicht wundert. Er trägt sie jedoch mit so viel Charme und Enthusiasmus vor, dass die Schwere einer einnehmenden Leichtigkeit weicht, die im ganzen Saal glückliche Festivalgänger zurücklässt.
Bei denjenigen, die bereits beim ersten Kaltern Pop Festival im Jahre 2015 dabei waren und den Auftritt von Loney Dear zusammen mit dem Stargaze Orchester auf der extra für ihn aufgebauten Bühne mitten im Vereinshaus erleben konnten, dürfte die Vorfreude auf seinen diesjährigen Auftritt besonders groß gewesen sein. Vor einem Bühnenbild, das irgendwo zwischen Schwarzlichttheater und der Unterwasserwelt von „Findet Nemo“ zu verorten ist, spielt Emil Svanängen ein wahnsinnig intensives Konzert, bei dem wieder einmal die Multiinstrumentalität und die Getriebenheit Svanängens beeindrucken. Nicht ganz so intim wie 2015, dafür aber mit ähnlicher Intensität, beendet Loney Dear einen wundervollen, in Teilen recht ruhigen, ersten Festivaltag.
Den zweiten Festivaltag eröffnen im Vereinshaus die Kölner Senkrechtstarter von WOMAN. Nach einer chaotischen Anfahrt vom kühl-windigen Rheinland ins spätsommerliche Südtirol, wirkt die Band zum Beginn des Konzertes etwas nervös. Die frühe Auftrittszeit und das ungewöhnliche Setting im Vereinshaus tragen sicherlich ihren Teil dazu bei, dass die Band sich in ihren Gig „reinkämpfen“ muss –wie man im Fußball sagen würde. Dies jedoch gelingt ihr vorzüglich. Mitte des zweiten Songs scheinen, zumindest aus Sicht des Publikums, alle Anfangsschwierigkeiten über Bord geworfen und die diesjährigen Preisträger des PopNRW Preises schaffen es, selbst die letzten Bewegungsmuffel zu etwas Ähnlichem wie Tanzbewegungen zu animieren. Diejenigen, die eher der Gitarrenmusik zugewandt sind, freuen sich über die großartigen elektrischen Gitarrenparts, die Manuel Tran den Anwesenden – gerade zum Ende des Konzertes – um die Ohren feuert.
Im Anschluss an WOMAN geht es weiter in die Kalterer Pfarrkirche zu Mario Batkovic. Von außen recht unscheinbar, wird man im Inneren von der Opulenz geradezu erschlagen. Ein perfekter Ort für den Schweizer Akkordeonvirtuosen, der bei seinem Auftritt vom Cantus Domus Chor unterstützt wird. Ein Konzert, bei dem es fast unmöglich ist, die Eindrücke, die auf einen einprasseln, zu verarbeiten – was wiederum sinnbildlich ist für den unglaublichen Facettenreichtum, den das dritte Kaltern Pop Festival seinen Gästen bietet.
Zurück im Vereinshaus betritt Schauspieler Tom Schilling mit seinen Jazz Kids die Bühne. Vorab macht sich eine gewisse Skepsis breit, gibt es doch zu viele Schauspieler, die sich im Bereich der Musik versuchen und kläglich scheitern. Soviel vorweg: Tom Schilling scheint da eine positive Ausnahme zu sein. Natürlich lässt er seine schauspielerischen Fähigkeiten in seine Performance einfließen, aber wie er den Zeremonienmeister gibt, hat großen Unterhaltungswert und – viel wichtiger – auch musikalisch weiß Schilling mit seiner wirklich großartigen Band zu überzeugen. Zum Ende des Auftritts wird er – wie gerade zuvor Mario Batkovic – vom Cantus Domus Chor unterstützt, was Schilling samt Band große Freude zu bereiten scheint. Ein überraschend kurzweiliges Konzert, das sowohl die Band als auch das Publikum begeistert zurücklässt.
Nach Tom Schilling und seinen Jazz Kids ist es Zeit für Erlend Øye. Bei dem Norweger, der bereits die gesamte Woche vor dem Festival in Kalterns Gassen anzutreffen war, hat man den Eindruck, dass Genie und Wahnsinn ganz nah beieinanderliegen. Mal ganz introvertiert mit Gitarre in einem Hauseingang sitzend, mal extrovertiert im „Lustigen Krokodil“ Frank Sinatra imitierend, ist das Kings of Convinience-Mastermind allgegenwärtig in dieser spätsommerlichen Woche in Südtirol. Bei seinem Auftritt ist ihm anzumerken, dass er zu Beginn ein wenig nervös ist. So bittet er nach dem ersten Song einen Fotografen, seine Fotos doch eher am Ende des Konzertes zu machen, da ihn das ständige Klicken der Kamera etwas in seiner Konzentration beeinträchtigt. Einmal die Nervosität überwunden, merkt man Øye an, wie er von Minute zu Minute mehr Spaß an seinem Auftritt hat und auch ein Texthänger bei einem seiner neuen Songs bringt ihn nicht aus dem Konzept, sondern offenbart auf charmante Art und Weise, dass auch einem musikalischen Genie und obendrein noch Perfektionisten nicht immer alles gelingt. Besondere Freude scheint ihm dabei die Unterstützung des Stargaze Orchesters zu bereiten. Die Begeisterung Øyes überträgt sich auf das Publikum, das ihn gar nicht mehr von der Bühne lassen will und man hat den Eindruck ginge es nach ihm, würde der schlaksige Norweger wahrscheinlich noch Stunden weiterspielen.
Es ist schon fast Tradition in Kaltern, dass Künstler am Festivalwochenende an verschiedenen Orten in verschiedenen Settings auftreten. So auch der Sizilianer Fabrizio Cammarata, der bereits am ersten Festivaltag die große Ehre hatte, das Festival in der Franziskanerkirche zu eröffnen. Dort noch in Begleitung vom Cantus Domus Chor, tritt er am Festivalfreitag nochmal im wunderschön intimen Rahmen des Weinmuseums auf. Wusste er tags zuvor schon zu gefallen, nutzt er seinen „Solo“-Auftritt, um das anwesende Publikum nachhaltig von sich zu überzeugen. Mit welcher Leidenschaft der kleine Mann seine Songs vorträgt, wie er die Gitarre als zusätzliches Rhythmusinstrument einsetzt und welch berührende Stimme das Gewölbe des Weinmuseums ausfüllt, sorgt bei den Zuhörern für den ein oder anderen Gänsehautmoment.
Nachdem wir am Festivaldonnerstag den Aftershow-Abstecher ins KUBA nicht mehr geschafft haben, lassen uns die Berliner von Hope an diesem Abend keine Wahl. Zu groß ist die Neugier, wie die Haldern Pop Recordings-Neulinge ihr selbstbetiteltes Debüt auf der Bühne umsetzen. Der dunkle Gewölbekeller des KUBAs scheint die perfekte Location für den oft an Portishead erinnernden Sound der Band um Sängerin Christine Börsch-Supan zu sein. Live wirken die Songs des Albums organischer, ohne jedoch an Intensität zu verlieren. Getragen vom treibenden Schlagzeug, singt, tanzt und faucht Börsch-Supan sich durch das dreiviertelstündige Set, das ganz klar den Eindruck bestätigt, dass es sich bei Hope um eine der spannenderen Neuentdeckungen aus den Musikwirrungen der Hauptstadtszene handelt.
Für uns beginnt der letzte Festivaltag zunächst mit den ersten Anflügen des Post-Festival-Blues. Der Gedanke daran, dass es sich bereits um den letzten Tag des Festivals handelt, wird also fortan mit viel vom wahnsinnig guten Wein aus der Region bekämpft. Musikalisch startet der Tag für uns mit Voodoo Jürgens, einem Künstler aus Wien, an dem sich ein wenig die Geister scheiden. Entweder man mag ihn oder man hat relativ wenig Verständnis für das, was er macht. Wir gehören zur ersten Fraktion und umso größer ist die Vorfreude auf seinen Auftritt. Zunächst stellt sich allenthalben die Frage, ob Jürgens es diesmal schafft, pünktlich zu seinem Auftritt zu erscheinen. Um es vorweg zu nehmen: NEIN! Der dritte Auftritt von Jürgens, dem wir beiwohnen durften, und – sage und schreibe – drei Mal macht ihm der Verkehr einen Strich durch die Rechnung. Einmal auf der Bühne des Vereinshauses, schafft er es dann aber, dem Publikum ein 30-minütiges Dauergrinsen aufs Gesicht zu zaubern. Die Kombination aus kauzigem Auftreten, Wiener Schmäh und einer Band, die wie aus der Zeit gefallen scheint, hat einen derart großen Unterhaltungsfaktor, dass die Enttäuschung riesengroß ist, als Jürgens bereits nach gut 30 Minuten die Bühne wieder verlassen muss. Mehr Zeit wird ihm aufgrund seiner Verspätung nicht eingeräumt. Schade, gerade im Hinblick darauf, dass es sich bei seinem Konzert – da ist man sich im Publikum einig – um eins der besten des ganzen Wochenendes gehandelt hat.
Nach Voodoo Jürgens macht sich der Festivaltrek auf den Weg vom Vereinshaus durch die schmale Goldgasse, vorbei am „Lustigen Krokodil“, ins Weinmuseum zu Birthh. Zu den wunderbaren Eigenheiten des Kaltern Pop Festivals gehört es, dass es immer wieder vorkommt, dass man auf diesem ca. 300 m kurzen Weg Personen, mit denen man am Vereinsheim gestartet ist, verliert, ganz neue Bekanntschaften macht und diese dann auch spontan mit einem schnellen Getränk im „Krokodil“ begießt. Dies führt dazu, dass spätestens am zweiten Abend nicht mehr von einem „normalen“ Festivalpublikum gesprochen werden kann, sondern man den Eindruck hat, hier sind Freunde und Bekannte im Ort, mit denen man sich ein wundervoll, entspanntes Konzertwochenende machen kann. Hat man es an diesem recht kühlen Samstagabend dann einmal ins Weinmuseum geschafft, muss man – zumindest die, die noch schnell ein Unterwegs-Getränk genommen haben – erstaunt feststellen, dass das Museum tatsächlich so voll ist, dass Einlassstop herrscht. Dieser dauert aber nicht lange und man kommt noch in den Genuss des wirklich außergewöhnlichen Auftritts der jungen Italienerin Birthh. Dahinter verbirgt sich die gerade Anfang 20-jährige Alice Bisi, die mit ihrer tollen Stimme und ihrem Sound, der manchmal an The xx erinnert, für eine ganz besondere Atmosphäre im altehrwürdigen Gewölbe des Weinmuseums sorgt. Ohne sich weit aus dem Fenster zu hängen, kann man sich sicher sein, dass man von Birthh noch viel hören wird.
Im Anschluss an dieses Konzert ist es Zeit für den Headliner des Festivals, der es augenscheinlich gar nicht sein will, denn eigentlich sollte anstelle von Kettcar an diesem Abend Judith Holofernes auf der Bühne in Kaltern stehen. Aufgrund einer schweren Krankheit musste diese ihren Auftritt jedoch absagen. War die Enttäuschung zunächst groß, wich diese dann sehr schnell großer Freunde, denn als Ersatz für Judith Holofernes konnten die Veranstalter niemand Geringeres als Kettcar verpflichten. Nachdem die Band um Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff mit ihrer neuen Platte „ICH vs. WIR“ in den letzten Wochen in aller Munde war, ist die Spannung beim Publikum, wie die Band die neuen Songs im Livegewand umsetzen wird, förmlich mit Händen zu greifen. Wie nicht anders zu erwarten und insgeheim auch gehofft, wird das Konzert mit der obligatorischen Ansage: „Wir sind Kettcar aus Hamburg, und das geht so“ eröffnet. Was direkt auffällt, ist, dass die Jungs anscheinend wieder richtig Lust haben, „Krach“ zu machen. Die Gitarren sind laut, dass Schlagzeug treibt und Reimer Bustorff bearbeitet den Bass mit einem Gesichtsausdruck, der einem fast Angst macht. Marcus Wiebusch ist anzusehen und anzumerken, dass die Wut auf die gesellschaftlichen Missstände, die bereits auf „ICH vs. WIR“ ihren Niederschlag fand, bei weitem noch nicht verflogen ist. Eine Wut, die einer Band, bei der man vor einigen Jahren noch den Eindruck hatte, sie sei altersweise geworden, wahnsinnig gut zu Gesicht steht und die den Inhalten der Songs einen Nachdruck verleiht, den man von den Protagonisten seit …But Alive-Zeiten nicht mehr kannte. Der Fokus des Auftritts liegt auf einigen wenigen neuen Songs und den Klassikern der Bandhistorie. Haben die Jungs bei den neuen Stücken offensichtlich noch ein wenig mit ihrer Nervosität zu kämpfen, wirken die Klassiker wie Landungsbrücken raus, Ich danke der Academy, Money Left to Burn, Balkon gegenüber und Balu frischer denn je. Ein Konzert, das einen würdigen Abschluss des Festivalwochenendes für das Vereinshaus bildet.
Die Ehre, das 3. Kaltern Pop Festival zu beschließen, haben im Anschluss an Kettcar die Intergalactic Lovers im KUBA. Diese beweisen im proppenvollen Gewölbe, dass sie inzwischen zu einem veritablen Headliner gewachsen sind. Hier passt alles: die Songs, die hervorragend eingespielte Band und ein Publikum, bei dem man den Eindruck hat, dass es nicht wahrhaben will, dass es sich bereits um die letzte Band des Festivals handelt und entsprechend alles gibt.
Nach den Intergalactic Lovers bringt DJ St.Paul aus den Niederlanden die Festivalmeute nochmal richtig zum Tanzen und auch hier bestätigt sich der Eindruck, dass die Anwesenden am liebsten gar nicht nach Hause gehen wollen, mit der Einsicht, dass das 3. Kaltern Pop Festival nach viel zu schnellen drei Tagen bereits wieder Geschichte ist.
Was bleibt, sind unzählige, wunderbare Eindrücke, neue Bekanntschaften und die Erkenntnis, dass man dem „Höher-Weiter-Schneller“-Festivalzirkus dieser Tage etwas entgegensetzen kann, was viel nachhaltiger ist als „Aftermovies und Feuwerwerk“. Wer auf dem 3. Kaltern Pop Festival war, braucht kein Aftermovie, denn jeder einzelne Besucher wird nach diesen wundervollen Tagen in Südtirol seinen eigenen, kleinen Festivalfilm im Kopf haben, gespickt mit Erinnerungen und Momenten, die einen über den kalten Winter tragen, mit der Gewissheit, sich im nächsten Jahr wieder auf die Reise zu diesem vielleicht tollsten – weil familiärsten – kleinen Festival der Welt zu begeben. Bis dahin versuchen wir weiterhin irgendwie, unseren verflixt hartnäckigen Post-Festival-Blues zu bekämpfen. Kaltern, wir sehen uns wieder!
Fotos: ©Denis Schinner