Karussell- Erdenwind
Fünf Männer werden einzeln vom Bus eingesammelt, fahren durch die Stadt und enden schließlich auf einem Hochhaus, um den Sonnuntergang über einer Stadt zu betrachten. Dazu singen sie ein Lied über „Meine Stadt“. Man denkt merkwürdig, bringen die Höhner jetzt im Sommer ihre neue Single raus? Nein es sind Karrussel mit ihrer ersten Single vom neuen Album ERDENWIND.
Klingt nach Auenland, nee ist gemäß Band eher im Kontext Zeitgeist oder dem unweigerlichen Fortschritt der Zeit zu verstehen. Die Songtexte sind auch eine Art Positionsbetsimmung, der bereits zu DDR Zeiten bedeutenden Band. Zum Glück artet es nicht in einem „Frühr war allles besser“ aus, sondern eher in einem kämpferischen „Carpe Diem“. Die Musik? Zeitloser Deutschpop, dessen Melodien genauso von Bosse oder Pur stammen könnten, wenn das Ganze hier vielleicht nicht ganz so laut produziert wurde. Ab und an tut der Stabreim ein wenig weh und so Deutschrockklischeebegriffe wie „Nachtkind“, die Klaus Lage heute bestimmt auch noch immer verwendet dürfen auch nicht fehlen. Nee, das ist insgesamt sympathisch, tut nicht weh und kommt mit seinen Bosse mäßigen Klaviermelodien („Frag nicht“) recht gefällig rüber. Wobei die poppigeren Sachen besser wirken als die semirockigen Ausflüge ins Peter Maffay Land („Geben oder nehem), die einfach nur peinlich sind. Zwischendurch kommt sogar fast etwas generationsübergreifend Kirchentagsstimmung auf wie in „Karussell“, der biografischen Aufarbetung der musikalischen Karriere des Sohnes. Ja, was soll man sagen, passt schon, da wird keinem die Pfanne heiß und ein Song wie „Sag Deinen Namen“ würde musikalisch den Sternen auch stehen.
VÖ: 11.Mai 2018, Monopol, http://www.heartshearts.net
Ohr d’Oeuvre: Frag nicht / Sag Deinen Namen
Tracklist: Meine Stadt/ Geben oder nehmen / Frag nicht/ Sag Deinen Namen/ Nachtkind/ Erdenwind/ Karussell / Wenn es hart wird/ Frei sei der Mensch/ Mein letztes Lied
Gesamteindruck: 5.0/10
(pd)
Heisskalt – IDYLLE
Nachdem am 12. Mai bereits die Single “Bürgerliche Herkunft” wie aus dem Nichts auftauchte, folgte in der Nacht auf Mittwoch den 23. Mai nun ebenso plötzlich und überraschend das neue Album IDYLLE der Post-Hardcore Band Heisskalt.
Seit dem zweiten Album VOM WISSEN UND WOLLEN hat sich so einiges getan. Das hat sicherlich auch mit dem Ausstieg von Bassist Lucas Mayer im Juli 2016 zu tun. Live wurde er seitdem durch Daniel Weber ersetzt, fraglich war, wie sein Verlust auf dem neuen Album kompensiert werden würde. Fest steht, dass Heisskalt auf IDYLLE ziemlich anders klingen.
IDYLLE ist ein Album der Kontraste. Allein der Titel will so gar nicht zu dieser desillusionierten, rauen, dunklen Platte passen. Heisskalt haben sie in Eigenregie in den Off the Road-Studios geschrieben und aufgenommen. Wie die scharfen Kanten eines Gebirgsgletschers ziehen sich die Gitarrenriffs durch die meisten der neun Tracks – mal dumpf und monoton wie in “Wiederhaben”, mal stampfend wie in “Bürgerliche Herkunft”.
Aber von Anfang an:
“Zwei Möhren das geht nicht/ die gibt es nur als Bund oder als Kilo” – “Bürgerliche Herkunft” eröffnet das Album. Laut, roh, voller laut-leise Dynamik klingt es noch vertraut im Heisskalt-Universum. Es kracht, Matze schreit, windet sich. Dann: “Wiederhaben”. Eine Tirade gegen Social Media, Selbstdarstellung, Internet-Trolle, Fake News, sogenannten Patriotismus etc., die sich in ihrer Intensität immer weiter hochschraubt bis sie schließlich in wütendem Geschrei ausbricht.
Ganz neue Seiten der Hardcore-Kapelle zeigt “Tapas und Merlot”, das verdammt nach Tocotronic klingt. Eine düstere zerbombte Landschaft qualmt hier vor sich hin. Gitarren wabern ungewohnt langsam vor sich hin. Ebenso im Titeltrack “Idylle”. Extrem reduziert und minimalistisch lassen Heisskalt den Hörer hier durch diese kalte, leere Welt stolpern.
In “Fest” wird verzweifelt nach Halt gesucht: “Gejagt von all deinen Möglichkeiten/ fliehst du immer weiter voraus/ Immer weiter treibt die Angst zu scheitern/ dich bis an die Ränder hinaus”. Was zu Beginn noch stark wie Die Nerven klingt, bricht nach dem zweiten Refrain in bekanntere Heisskalt-Gefilde aus. Schreie, krachende Drums, eine Gitarre kreischt wie eine Sirene.
Ihre dystopische “Idylle” zeichnen Heisskalt in “Du denkst ich lächle dich an doch mich blendet die Sonne” mit höherem Tempo und mehr Lautstärke weiter – mit 5:10 Minuten der längste Song der Platte. Die Zeile “Es wird schon weitergehen/ oder an die Wand” diagnostiziert den derzeitigen gesellschaftlichen Zustand.
“Tassenrand” scheint dazu aufzurufen, mal über diesen hinüber zu schauen: “Was hat Glauben mit Vergessen gemein?”. In “Wie Sterne” werden schließlich wieder die Effektverliebten Gitarren ausgepackt und Mathias verspricht, man müsse sich keine Sorgen machen, “es wird morgen wieder hell”. Bittersüß beginnt dann auch “Herbstlied”, der letzte Song der Platte. Zwei Gitarren tröpfeln nebeneinander her, plötzlich sitzt man auf einem südfranzösischen Marktplatz im Spätherbst. Das Licht fällt bereits schräg und in orangem Schimmer auf die grauen Gemäuer, ein kühler Wind streicht über die fröstelnden Arme, Gänsehaut. Der Gesang setzt erst nach zwei Minuten ein. “Die Tage werden kürzer/ Und zu lächeln fällt uns schwerer/ Wir stolpern und wir stürzen/ einander hinterher/ Versuchen zu vergessen/ Ohne uns dabei zu verlieren”, der Marktplatz versinkt in kälter werdender Luft und fahlem Licht. Der Winter naht.
Aus der “Idylle” stolpert man seltsam hoffnungslos wieder hervor, muss erstmal tief Luft holen, eine bedrückende Schwere abschütteln. Die Stimmung der Platte wirkt erschöpft, abgekämpft. Die Energie und den ironietriefenden Sarkasmus der vorherigen Heisskalt-Platten sucht man vergebens. Das macht die Platte letztlich nicht minder gut, nur eben ungewohnt. Vielleicht auch, weil sie den Hörer mit einer präzis gezeichneten Zustandsbeschreibung der Gesellschaft konfrontiert. Einer düsteren Realität, die man letzten Endes nicht durch einen Instagram-Filter verleugnen kann. Heisskalt zwingen uns, sie anzusehen. #nofilter.
VÖ: 23. März 2018, DIY, https://www.heisskaltmusik.de
Ohr d’Oeuvre: Bürgerliche Herkunft/ Wiederhaben/ Wie Sterne/ Herbstlied
Gesamteindruck: 8/10
Tracklist: Bürgerliche Herkunft/ Wiederhaben/ Tapas und Merlot/ Idylle/ Fest/ Du denkst Ich lächle dich an doch mich blendet die Sonne/ Tassenrand/ Wie Sterne/ Herbstlied
(rl)