Haldern, alte Lady! Kaum ist man auf dem Zeltplatz an der Lohstraße angekommen, sitzt man schon wieder im Auto auf der Rückfahrt durch die hochstehenden niederrheinischen Maisfelder. Zwischen der Ankunft im ersten donnerstäglichen Gewittersturm und der Abreise bei schönstem Sonntagswetter lagen drei tolle Tage mit neuen Lieblingsbands, den typischen „Haldern Momenten“ und vielen großartigen Erinnerungen.
Der Donnerstag scheint inzwischen klammheimlich zum vollwertigen Festivaltag angewachsen zu sein. Entsprechend früh startet das Programm im Ort. Diejenigen, die es früh dorthin in den Ort schaffen, müssen feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, die Künstler aus nächster Nähe zu Gesicht zu bekommen, da die Schlangen vor der Pop Bar, dem Jugendheim und der Kirche teilweise gewaltige Ausmaße annehmen. Ein positiver Nebeneffekt dieser – für manchen eher negativen – Entwicklung zeigt sich im Laufe des Wochenendes am Spiegelzelt: Hier hat sich die Anstehsituation im Vergleich zu den letzten Jahren gefühlt ein wenig entspannt.
Donnerstag
Auch die Hauptbühne wird in diesem Jahr erneut bereits am Donnerstag eröffnet. Diese ehrenvolle Aufgabe haben The Inspector Cluzo aus Frankreich. Nach einem Plädoyer für das Leben auf dem Land starten die zwei hauptberuflichen Landwirte nur mit elektrischer Gitarre und Schlagzeug bewaffnet in ihren kurzweiligen 45-minütigen Auftritt. Irgendwo zwischen den frühen Black Keys und Royal Blood entwickeln sie einen bemerkenswerten Druck auf der Bühne, der unterstützt wird durch die außergewöhnliche Bandbreite der Stimme von Sänger und Gitarrist Laurent ‚Malcolm‘ Lacrouts. Ein angenehm lauter Start auf der Hauptbühne.
Im Anschluss an The Inspector Cluzo stehen Public Service Broadcasting aus London auf der Mainstage. 2015 im Biergarten spielten die Engländer am späten Abend einen Gig, der besonders aufgrund der visuellen Unterstützung in Erinnerung geblieben sein dürfte. Umso größer war die Neugierde, ob das die Band auch am frühen Abend im Hellen funktionieren würde. Unterstützt von einer großartigen Bläserfraktion, verfliegt direkt nach den ersten Takten jeglicher Zweifel und bereits zu früher Stunde am ersten Tag tanzt nahezu der komplette Reitplatz.
Nach Public Service Broadcasting bittet Petrus dann nochmal kurz, aber eindringlich um Aufmerksamkeit. Nahezu unvermittelt öffnet er die Schleusen für einen Regenguss, den man derart heftig sehr selten erlebt haben dürfte. Diese Momente sind es dann oft, die einem die Einzigartigkeit des Haldern Pop Festivals vor Augen führen: Die legendäre Steinofen Pizzabude Beppo öffnet seine Türen und bietet so vielen wie möglich Unterschlupf vor Petrus‘ Eskapaden. Dies wohlgemerkt zwischen Ofen, Pizzatisch und den fleißigen Mitarbeitern. Ein Bild, das man nicht so schnell vergessen wird, was für den Chef von Beppos Steinofenpizza aber eine Selbstverständlichkeit darstellt, wie er danach versichert.
Zum Leidwesen der Dirty Projectors leert sich im Anschluss der Platz vor der Hauptbühne zusehends, da sich viele vor dem Auftritt von Fink noch mit trockener, warmer Kleidung versorgen wollen.
Pünktlich zu Fink ist der alte Reitplatz dann richtig voll. Fin Greenall aka Fink ist einer dieser Künstler, dessen Namen man kennt, dessen Songs man wahrscheinlich irgendwo bereits gehört hat, der aber immer ein wenig durchs Raster gefallen ist. Dabei strahlt der Mann eine beeindruckende Bühnenpräsenz aus. Auf dem diesjährigen Haldern tritt die Band mit zwei Schlagzeugen auf, was dem Auftritt eine großartige Kompaktheit beschert. Die anfängliche Sorge, ob ein Singer-Songwriter auf diesem prominenten Hauptbühnen-Slot nicht zumindest mutig ist, verfliegt durch Finks Präsenz, einer tollen Setlist und einer hervorragend eingespielten Band bereits mit nach wenigen Minuten des Gigs und Fink hinterlässt einen durchweg begeisterten Reitplatz.
Apropos Mut: Dass Mut ein Markenzeichen und leider inzwischen auch nahezu ein Alleinstellungsmerkmal des Haldern Pop Festivals ist, dürfte hinlänglich bekannt sein. Aber mal ganz ehrlich: Einen Akkordeonspieler am ersten Abend um 23:00 Uhr auf der Hauptbühne zu platzieren, dazu gehört schon eine Menge Chuzpe. Gut, wir reden hier nicht von irgendeinem Akkordeonspieler, sondern von Mario Batkovic, einem der wohl besten und außergewöhnlichsten seines Faches. Auch tritt er nicht alleine auf, sondern in Begleitung einer Band mit zwei Schlagzeugern- wie bereits bei Fink gesehen – und der Unterstützung des Cantus Domus Chors. Sicherlich nicht für jeden etwas, entwickelt Batkovic eine Faszination, der man sich nur schwer entziehen kann. Aufgrund der zwei Schlagzeuger und des geschickten Wechsels der Instrumente schafft der Wahl Schweizer es mit Leichtigkeit, das Vertrauen, das Stefan Reichmann ihm mit der prominenten Platzierung auf der Hauptbühne entgegenbringt, zu bestätigen.
Die Ehre, den Donnerstag zu beschließen, hat Philipp Poisel. Leider nimmt der Regen, der bereits bei Mario Batkovic eingesetzt hat, zu und peitscht zu allem Überfluss durch den böigen Wind auf die Bühne. Was – gepaart mit dem wundervollen Bühnenlicht – ein Fest für jeden Fotografen ist, gestaltet sich für Poisel und Band ziemlich schwierig. Der kleine Schwabe versucht das Beste aus den widrigen Umständen zu machen, was ihm gerade zum Ende des Konzerts auch wirklich gelingt. Die verbliebenen, nassen „Poisel Ultras“ tanzen sich die Nässe aus den Knochen, während Philipp Poisel sogar noch einige recht gewagte Breakdance-Moves zum Besten gibt.
Freitag
Der Haldern-Freitag stand in diesem Jahr im Fokus des Hip-Hops, wodurch dieser zweite Festivaltag von einigen Besuchern vorab zum schwächsten der drei Tage auserkoren wurde. Ein Trugschluss, wie sich bereits im Laufe des Festivalfreitages zeigen sollte. Der Start in diesen Tag ist dem Cantus Domus Chor in der Kirche vorbehalten. Ähnlich wie beim letztjährigen Kaltern Festival findet ein nahtloser Übergang vom Chor zu Fabrizio Cammarata statt. Auch wenn man den Sizilianer schon mehrfach gesehen hat, fasziniert immer wieder, welch mächtige Stimme aus diesem kleinen Mann herauskommt. Zusammen mit dem Chor in der Kirche St.Georg ein wundervoll ruhiger Einstieg in den Freitag.
Die Ruhe, die Fabrizio Cammarata in der Kirche ausgestrahlt hat, verfliegt augenblicklich mit den ersten Takten der Niederländer Canshaker Pi. Mit herrlichem Mid 90’er Indie Sound à la Pavement zaubern sie vielen im Publikum ein seliges Lächeln ins Gesicht. Verbunden mit einer Spielfreude, die knapp auf der Schwelle zum Wahnsinn balanciert, spielen sich die fünf Amsterdamer bei ihrem 45-minütigen Auftritt in die Indie-Herzen der Anwesenden.
Beim Auftritt des Slow Readers Club auf der Hauptbühne wird schnell klar, warum die Band als kommende große Nummer gehandelt wird. Irgendwo zwischen Interpol und Editors – mit oftmals zu deutlichem Ausschlag in Richtung letztgenannter – ist das Ganze äußerst professionell und durchaus nett anzusehen, lässt aber auch jegliche Eigenständigkeit vermissen.
Dass Hip-Hop in Haldern gut funktioniert, hat man in der Vergangenheit des Öfteren miterleben dürfen. Ob dies jedoch auch bei einem Rapper klappt, der eigentlich aus dem Punk/Hardcore kommt und der ganz alleine auf der Bühne im Spiegelzelt steht, durfte vorab zumindest bezweifelt werden. Aber Haldern wäre nicht Haldern, wenn man den Mann mit Namen Astronautalis nicht mit knüppelvollem Zelt und großem Applaus in Empfang nehmen würde. Überwältigt von so viel Zuneigung, merkt man ihm auch zu Beginn seines Sets etwas Nervosität an. Es ist zwar beeindruckend, mit welcher Freude und Intensität Charles Andrew Bothwell aka Astronautalis zu Werke geht, so richtig springt der Funke zunächst aber nicht auf das Publikum im Zelt über. Dies ändert sich jedoch nach einer dreiteiligen, unfassbar charmanten und liebevollen Ansage in Richtung seiner Frau und des Publikums schlagartig. Als hätte man einen Schalter umgelegt, explodiert das Spiegelzelt, wie es selbst altgediente Haldern Veteranen selten bis nie erlebt haben dürften. Das komplette Zelt hüpft, Astronautalis verbringt Teile seiner Songs in der durchdrehenden Menge inmitten des Zeltes und nicht wenige wünschen sich, die „Miami Beach Pool Party“ würde noch ewig weitergehen.
Von der Party im Spiegelzelt ist der Übergang nahtlos zur Party der Haldern-Besucher aus den benachbarten Niederlanden vor der Mainstage. Dort stehen nämlich De Staat aus Nijmegen auf der Bühne. In den Niederlanden riesig, weiß die Band auch auf dem alten Reitplatz ein ordentliches Fass aufzumachen. Irgendwo zwischen hypnotisch und mit Instrumenten gespielter holländischer Kirmestechno. Und spätestens als Sänger Torre Florim bei Witch Doctor ins Publikum hüpft, gibt es bei unseren sympathischen Nachbarn kein Halten mehr.
Wie unfassbar smooth Hip-Hop sein kann, beweisen Sampa the Great danach im Spiegelzelt. Die junge Sampa Tembo hat einen derart mitreißenden Flow, dass es eine wahre Freude ist, der jungen Dame an den Lippen zu hängen. Erinnerungen werden wach an Lauryn Hill von den Fugees oder an ihr männliches Pendant Loyle Carner. Von Sampa Tembo wird man noch hören, versprochen!
Was kann es Besseres geben als strahlenden Sonnenschein über dem Haldern Pop Festival und eine ordentliche Prise Soul auf der Hauptbühne. Richtig: nichts. Curtis Harding verkörpert ebendiesen Soul und begeistert am späten Nachmittag mit dem perfekten Sommer-Soundtrack. Die Spielfreude Hardings und seiner großartigen Band überträgt sich auf die Zuhörer, die allenthalben aus dem freudigen Grinsen nicht mehr herauskommten.
Nach Curtis Harding wird es auf der Hauptbühne wieder einmal experimentell an diesem Wochenende. Das stargaze Orchester – inzwischen so etwas wie das „Haus und Hof-Orchester“ in Haldern – spielt eine Hip-Hop Challenge, wobei Stücke zeitgenössischer Rapper in orchestralem Gewand dargeboten werden. Zwischen den rein instrumentalen Stücken werden immer wieder Gast-Rapper, wie die Haldern-Lieblinge von The Lytics, Sampa Tembo von Sampa the Great oder auch den durch seinen Auftritt zum absoluten Publikumsliebling avancierten Astronautalis auf die Bühne gerufen. Wie so oft in Haldern, gelingt das Experiment. Das stargaze Orchester ist glücklich, weil sich so viele Menschen vor der Bühne auf das Experminet einlassen und die Musiker sind glücklich, weil sie eher selten die Möglichkeit haben, sich mit einem ganzen Orchester die Bühne zu teilen. Das Publikum feiert alle Gastmusiker und das Orchester gebührend ab, wobei vor allem die Freestyles von Astronautalis und Sampa Tembo für offene Münder sorgen.
Die im Spiegelzelt folgenden HOPE haben es bei ihrem Auftritt schwer, die durch die vorangegangenen Konzerte euphorisierte Meute auf ihre Seite zu ziehen. Zu sperrig ist für manche der wavige Post Punk der Berliner. Leider ist ihr Sound auch nicht ganz so druckvoll wie noch beim Rock im Saal oder Kaltern Pop Festival. Die Band macht jedoch das Beste daraus und spielt ein kurzweiliges, intensives Set.
Die Villagers und vor allem deren Mastermind Conor O’Brien gehören inzwischen fast zum Inventar in Haldern. Nahezu ein dutzend Mal stand O’Brien entweder mit Band oder solo auf einer der Bühnen am Niederrhein. Nachdem die Band 2015 noch den Freitag im Spiegelzelt eröffnen durfte, stehen sie an diesem Freitag zu prominenter Uhrzeit auf der Hauptbühne. Der Publikumsandrang zeigt, dass die Band – trotz aller Intimität, die das Spiegelzelt mit sich bringt – diesem entwachsen sind. Eine negative Begleiterscheinung ihres Auftritts auf der Hauptbühne ist das rücksichtslos laute Gequatsche vieler Zuhörer. Ein Umstand, den man in Haldern eigentlich nicht gewohnt ist. Dies verhagelt einem ein wenig das ansonsten schöne Konzert der Iren.
Von ruhigem irischen Folk hin zu Halderns Lieblings-Hip-Hop-Familie, den Lytics aus Winnipeg, Kanada. Was sich bereits bei der stargaze Hip-Hop Challenge auf der Hauptbühne angekündigt hatte, setzt sich im Spiegelzelt nahtlos fort: Ein Hip-Hop Jam, dass man ohne Übertreibung einen feisten Abriss nennen kann. Von der ersten Minute an haben die Jungs um DJ Hectic das Zelt im Griff und lassen es bis zum Ende ihres Gigs auch nicht mehr los. Zu sympathisch ist ihr Auftreten, zu wundervoll oldschoolig ihre Songs. Geht es um Hip-Hop, sollte man auf Falk Schacht hören, der über die Kanadier sagt: “Wer guten 90’s Boom Bap Sound mit Soul Einflüssen mag und keine Angst vor Melodien hat, wird hier sehr glücklich werden.“ Das würde jeder, der am Haldern-Freitag im Spiegelzelt dabei war, ohne Umschweife unterschreiben.
Samstag
Die Ehre, die Hauptbühne am Samstag zu eröffnen, wird in diesem Jahr Fortuna Ehrenfeld zuteil. Und was soll man schreiben? Er kam – im Schlafanzug, mit Bärentatzen und Flasche Rotwein-, sah – noch etwas verschlafen aus – und siegte – auf ganzer Linie. Als Fortuna Ehrenfeld-Frontsau Martin Bechler die Bühne betritt, sieht man allenthalben überraschte und manch skeptische Gesichter. Zumindest bei denen, die noch nie etwas von der Band gehört oder gesehen haben. Diese Skepsis verfliegt aber in dem Moment, in dem Bechler beginnt zu singen. Man hängt an seinen Lippen und schwankt das komplette Konzert zwischen lautem Lachen und zustimmendem Seufzen. Manch einer verdrückt sogar das ein oder andere Tränchen. Der Mann auf der Bühne mag zwar lustig aussehen, die Texte sind jedoch so tiefsinnig und anrührend, dass sie einen den kompletten Festivalsamstag nicht mehr loslassen. Menschen im Publikum, die die Band vorher offensichtlich nicht kannten, recken ab der Mitte des Sets zustimmend die Fäuste gen Himmel, wenn Bechler wieder einen seiner verschrobenen, tiefpoetischen Songtexte von sich gibt. Als dann noch die örtlichen Bläser und Bläserinnen auf die Bühne kommen, um mit Fortuna Ehrenfeld „Das letzte Kommando“ zu spielen, ist es auch um den Letzten im Publikum geschehen. Dass die erste Band auf der samstäglichen Hauptbühne mit „Zugabe“-Rufen verabschiedet wird und der Applaus schier gar nicht mehr abebben will, erlebt man selten und unterstreicht, dass man gerade Zeuge von etwas Besonderem geworden ist. Das scheint der Veranstalter ähnlich zu sehen: Zwar spielt die Band keine Zugabe auf der Hauptbühne, dafür darf sie jedoch am Abend noch ein komplettes Überraschungskonzert im kleinen Niederrheinzelt spielen. Dieses ziehen Bechler, Keyboarderin Jenny und Schlagzeuger Paul dann auch gehörig auf links. Nicht selten hört man den Satz: „Wem es auf dem Haldern Pop gelingt, einen dieser „Haldern Momente“ zu schaffen, der ist auf dem besten Weg, groß zu werden.“ Ja, dann mal aus tiefstem Herzen: „Herzlichen Glückwunsch“ nach Köln Ehrenfeld!
Noch völlig hin und weg vom gerade Erlebten, geht es für viele Richtung Spiegelzelt. Love A laden zum Tanz und Haldern lässt sich nicht lange bitten. Leider ist der Sound bis zur Hälfte des Sets recht dünn. Das Schlagzeug hat gar keinen Druck und die Gitarre von Stefan Weyer ist kaum zu hören. Bereits nach dem ersten Song schallt es „lauter, lauter“ durch das Zelt. Leider wird der Sound erst gegen Ende des Konzerts druckvoller. Die Band um Jörkk Mechenbier macht zusammen mit dem Publikum jedoch das Beste aus dem Sound-Ärgernis. Sympathisch wie eh und je, gibt Mechenbier den Zeremonienmeister und das Spiegelzelt sieht seinen ersten durchgängigen Moshpit an diesem Wochenende. Bands vom Kaliber Love A würde man gern öfter auf dem Haldern Pop sehen.
War der Sound bei Love A noch etwas dünn, überrollen White Wine das Publikum mit einem wahren Soundgewitter. Sänger Joe Haege verbringt einen Großteil des Konzertes wahlweise singend, schreiend oder tanzend inmitten des Publikums. Einigen im Zelt scheint der Auftritt zu experimentell zu sein. Diejenigen, die sich das Spektakel bis zum Ende anschauen, werden jedoch Zeuge der beeindruckenden „Live-Performance“ einer Band mit einer unfassbar guten Rhythmusfraktion und einem Sänger am Rande des Wahnsinns.
Gisbert zu Knyphausen stand zuletzt vor sieben Jahren auf der Bühne des Haldern Pop Festivals. Damals spielte er auf der Hauptbühne ein solides Konzert, wirkte jedoch auch ein wenig erschöpft. In der Zwischenzeit ist bei dem Rheinhessen viel passiert, einiges davon sicherlich äußerst prägend. So schied Nils Koppruch, mit dem er als Kid Kopphausen unterwegs war, völlig überraschend und viel zu früh aus dem Leben. Ein Drama, dessen Auswirkungen sowohl auf dem letzten Album „Das Licht dieser Welt“ als auch im Live-Kontext ihren Niederschlag finden. Live hat zu Knyphausen von der gemeinsamen Zeit mit Koppruch ganz klar profitiert. Seine Songs wirken im Live-Gewand leichter, die Instrumentierung ist vielschichtiger und er selbst wirkt auf der Bühne irgendwie befreiter im Vergleich zum Auftritt 2011. Diesen Eindruck, den man schon bei seinem Überraschungsauftritt beim Orange Blossom Festival 2015 hatte, unterstreicht er an diesem spätsommerlichen Haldern-Samstag. Zunächst recht ruhig und mit vielen neuen Songs gespickt, packt er das Publikum ab der Hälfte seines Sets mit den Songs früherer Alben. Dabei versprüht er eine ungeheure Spielfreude, was sich in der Abenddämmerung auf das Publikum vor der Hauptbühne überträgt. Perfekter kann ein Auftritt nicht in die abendliche Stimmung auf dem alten Reitplatz passen.
Das Haldern Pop Festival war nie vordergründig politisch. Vielmehr waren es in der Vergangenheit die verschiedenen Motti oder auch mal die prominente Platzierung „politischer“ Künstler, mit der das Festival den Finger in manch gesellschaftspolitische Wunde gelegt hat. In diesem Jahr ist das ein wenig anders. „Das Fremde hat uns stets bereichert“ heißt eine Gesprächsrunde, bei der neben Wissenschaftlern wie dem Migrationsforscher Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani auch Parteipolitiker über Migration und deren Auswirkungen diskutieren. Sicherlich eine gute Entscheidung in der heutigen Zeit, die geprägt ist von irrationalen Ängsten und einem oftmals inakzeptablen Umgang miteinander, das Thema auf die Festivalagenda zu hieven. Was in diesem Zusammenhang jedoch schade ist, ist, dass recht wenige Künstler zu diesem Thema Stellung nehmen. Dabei geht es nicht um plumpes „Nazis raus“-Gebrülle, sondern vielmehr darum, die bedenklichen gesellschaftlichen Entwicklungen in diesem Land anno 2018 zu thematisieren. Kettcar, die mit ihrem Album „Ich vs. Wir“ im Jahre 2017 genau das getan haben, bilden bei ihrem großartigen Konzert die Ausnahme. Dies war sicherlich zu erwarten – umso erfreulicher ist die Art, wie Marcus Wiebusch dieses Thema anspricht. Keine ausufernden Reden, kein erhobener Zeigefinger, kein Oberlehrertum. Kurz und prägnant weist er auf unser aller Verantwortung im Zuge der Flüchtlingsbewegungen hin und endet mit dem Satz: „HUMANISMUS IST NICHT VERHANDELBAR.“ Statt sich Kreuze in jede öffentliche Einrichtung zu hängen, sollte man in Bayern überlegen, ob man nicht jede dieser Einrichtungen mit diesem Satz bestückt.
Kettcar hat man sicherlich schon über ein Dutzend Mal live gesehen. Dieser Auftritt auf dem Haldern Pop Festival 2018 gehört mit Sicherheit zu einem ihrer besten, wenn es nicht sogar der beste war. Die Songauswahl, das Bühnenbild, die Ansagen, die Spielfreude der Band und nicht zuletzt das Publikum tragen ihren Teil dazu bei, dass dieses Konzert noch lange nachhallen wird. Manchmal braucht es nicht viel, um glücklich zu sein: eine Band, eine Bühne, Sätze, die dem Publikum aus dem Herzen sprechen und vielleicht noch seine besten Freunde um sich herum. Ein perfekter Abschluss des Haldern Pop 2018 – sollte man meinen.
Die Sleaford Mods muss man eigentlich mögen. Zwei Typen mittleren Alters, von denen einer recht banale Sounds mit seinem Rechner macht und der andere schimpft, als würde es kein Morgen mehr geben. An sich super Voraussetzungen für ein gelungenes Konzert. Leider hat man nach Kettcar irgendwie das Gefühl, alles ist gesagt und besser kann es sowieso nicht mehr werden. Die Emotionalität, die nach dem Kettcar-Auftritt allenthalben in der Luft liegt, wäre ein wundervolles Ende eines tollen Wochenendes gewesen. Die Schimpftiraden von Jason Williamson hingegen verhageln einem den Abschied vom alten Reitplatz ein wenig. Dass wir uns nicht falsch verstehen, die Sleaford Mods sind tolle Jungs, die man sich unbedingt angucken sollte, aber zu diesem Zeitpunkt vielleicht etwas fehlplatziert.
Das 35. Haldern Pop Festival hielt nahezu alles, was es versprochen und worauf man sich gefreut hat: tolle Konzerte, ein entspanntes Publikum, eine durchweg gute Organisation und ja – auch in diesem Jahr – Regen. Diejenigen, die die Wehmut sehr doll plagt und die es kaum abwarten können bis das 36. Haldern Pop am zweiten Augustwochenende im nächsten Jahr seine Pforten öffnet, sei das Kaltern Pop Festival in Südtirol wärmstens ans Herz gelegt. Haldern-Atmosphäre in noch intimeren Rahmen – ja das geht –, eine atemberaubende Gegend, tolle Künstler und ein wunderbar gastfreundliches Örtchen erwarten einen Ende Oktober in Kaltern am See.