Einer der treuesten Besucher des Haldern Pop Festivals ist sicherlich der Wettergott, der traditionell ausgerechnet am zweiten Augustwochenende eher schlechte Laune zu haben scheint. Eine immer wieder aufflammende Diskussion unter Haldern Besuchern ist dann auch die, ob ein ausgiebiger niederrheinischer Landregen zum Festival gehört oder ob es nicht schön wäre, einfach mal das Haupterkennungszeichen eines Sommerfestivals – nämlich den Sommer – in seiner ganzen Pracht erleben zu dürfen. In diesem Jahr stehen die Vorzeichen für ein sonnig heißes Festivalwochenende nicht schlecht, wenn der bereits beschriebene Wettergott seiner „Sommer 2018 Linie“ treu bleibt. Aber seien wir ehrlich, selbst wenn es nicht so sein sollte, schmälert das die Vorfreude auf ein Wochenende mit guten, alten und vielen neuen Freunden, großartiger Musik und dem ein oder anderen kühlen Getränk keineswegs.
Nicht wenige der Besucher sind mit dem Festival gealtert, viele jüngeren Jahrgangs lassen sich Jahr für Jahr auf ein Festivalprogramm ein, das zu einem nicht geringen Prozentsatz für sie völlig unbekannt ist. Der Vertrauensvorschuss, den das Publikum dem Festival gibt, ist riesig und man weiß meist erst während oder nach dem Festival, ob sich das Vertrauen ausgezahlt hat. In den vergangenen 34 Jahren war dies nahezu immer der Fall und man hatte auf dem Rückweg vom Festival nicht nur viele tolle Erinnerungen im Gepäck, sondern auch einige neue Lieblingsbands. Auch in diesem Jahr macht das Festival es einem auf den ersten Blick nicht ganz leicht. Waren es im letzten Jahr noch die – für das Haldern – großen Headliner und ein äußerst prominent besetztes Mittelfeld, tut man sich in diesem Jahr beim ersten Blick etwas schwerer mit dem Line-up. Aber keine Angst, auch in diesem Jahr sind neben den bekannten Größen wie Kettcar, Fink, Gisbert zu Knyphausen oder Nils Frahm auch viele kleine Perlen zwischen den fast 80 Bands im Line-up versteckt. Um euch die Suche ein wenig zu erleichtern, wollen wir euch einige unbekanntere Bands ans Herz legen, die vielleicht im Anschluss an das 35. Haldern Pop Festival einen festen Platz in euren Plattenregalen haben werden:
Fabrizio Cammarata: Kaltern, irgendwann am Mittwoch spät abends vor dem Festival. Der Schlagerabend im „Lustigen Krokodil“ steuert auf seinen Höhepunkt zu, als es zum Clash der „Selbstvertrauen-Alphatiere“ kommt. Besitzer und Südtiroler Schlagerbarde Stefan Florian zieht gerade die Hit-Asse von Sinatra aus dem Ärmel, als Erlend Øye die Idee hat, dass das Ganze im Duett doch viel besser beim Publikum ankommen würde. Florian, wahrscheinlich auch nicht genau wissend, wer da mit ihm ein Duett singen will, gibt Øye freundlich, aber bestimmt zu verstehen, dass das „Krokodil“ sein Tanzbereich ist, was Øye nur unter Protest zur Kenntnis nimmt und erbost das Lokal in der Kalterer Goldgasse verlässt. In diesem Moment schnappt sich der vor dem Lokal sitzende Fabrizio Cammarata den immer noch leicht aufgebrachten Erlend Øye, setzt sich mit ihm in einen Hauseingang und spielt ihm ein paar seiner neuen Stücke vor. Es dauert keine 5 Sekunden bis die Stimmung von aufgebracht in herrlich entspannt und harmonisch umschlägt. Warum nun diese ganze Geschichte? Weil sie zeigt, welchen Effekt der kleine Sizilianer Cammarata mit seinen sehr reduzierten, wunderschönen Songs auf die Zuhörer hat. Zusammen mit dem Cantus Domus Chor in diesem Jahr einer der Höhepunkte in der Kirche.
HOPE: Manchmal bekommt man Platten geschickt, bei denen man sich denkt: „Spitzen Label, äußerst geschmacksicher, sagen wir natürlich eine Besprechung zu.“ So geschehen bei HOPE aus Berlin. Platte bekommen, gehört und nach drei Songs gedacht: „Ach Gott, was ist das denn und vor allem wie soll man das besprechen?“ Platte beiseitegelegt und in der Redaktion herumgefragt, ob nicht jemand Lust hat, die neue Platte von HOPE – ja, die Band von Haldern Pop Recordings – zu besprechen. Reaktionen weit weg von Begeisterung signalisieren: NEIN keine Lust beim Rest der Redaktion. Gut, also hinsetzen und die Platte Wohl oder Übel anhören. Und dann geschieht etwas, was sehr selten geschieht. Man erwischt sich auf einmal, wie die Musik einen gefangen nimmt. Einem ist nicht ganz klar, warum dies in diesem Moment der Fall ist, man kann sich aber auch nicht dagegen wehren. Man hört das Album wieder und wieder, weil es einen geheimnisvollen Reiz ausübt, der nur schwer in Worte zu fassen ist. Genau diesen Reiz bringen HOPE aus Berlin auch auf die Bühne. Ihre Auftritte beim Kaltern Pop und beim Rock im Saal hatten eben diesen Effekt. Ein zunächst reichlich verdutztes Publikum ist am Ende des Sets begeistert von der Band um Sängerin Christine Börsch-Supan.
LOVE A: LOVE A und Haldern – endlich findet zusammen, was zusammengehört. Zumindest finden wir, dass die Band um Frontsau Jörkk Mechenbier wie Arsch auf Eimer auf das Haldern Pop Festival passt. Ja, sie haben schonmal beim Rock im Saal im Gasthof Tepferdt auf der Bühne gestanden, aber eben nicht auf dem Festivalplatz an der Lohstraße. Was wird einen erwarten? Nichts Besonderes! Die Jungs werden auf die Bühne des Spiegelzeltes kommen, dieses gekonnt in Schutt und Asche legen und am Ende einen Pulk glücklich, verschwitzter Gesichter zurücklassen. LOVE A halt.
Fortuna Ehrenfeld: Unsere poshen Herzen sind uns erstmalig beim Grand Motel van Cleef Festival 2017 in Sankt Peter Ording um die Ohren geflogen. In schlechtsitzendem, grünem Samtsakko, bewaffnet mit Gitarre, weißer Federboa und einem Fläschchen Rotwein haute uns Martin Bechler aka Fortuna Ehrenfeld in kurzer Zeit mehr tattoowürdige Weisheiten um die Ohren als auf einen durchschnittlich korpulenten Körper passen. Inzwischen per FB Annonce zum Trio angewachsen, hat sich Fortuna Ehrenfeld innerhalb kürzester Zeit durch Touren mit Kettcar, Festivalauftritten und diversen Guerilla Shows eine stattliche Fanschar erspielt. Texte, die auf den ersten Blick dadaistisch sind, entfalten bei genauerem Hinhören ein Tiefe, die berührt und auch vor gesellschaftlich relevanten Themen keinen Halt machen. Warum wir Fortuna Ehrenfeld derart in unser Herz geschlossen haben, lässt sich am besten an einer Textzeile festmachen, die stellvertretend für jmc stehen könnte: „Kannste dich erinnern, war ja kaum zu glauben, ein Schrank voll feuchter Hosen und Pipi in den Augen, wir hatten keine Ahnung und vor allem keinen Plan, also haben wir uns besoffen und so fing das dann an, und dann raus in diese Welt“. Wir werden in nahezu voller Mannschaftsstärke am Samstag vor der Hauptbühne stehen und uns bierselig mit einer Zementmischerkippe in der Hand gegen die Vernunft und gegen die Faschisten küssen. Das sollte das ganze Festival tun, denn der Auftritt von Bechler, Paul und Jenny wird – das muss man wirklich sagen – richtig, richtig stark werden. Versprochen!
Terra Profonda: Wer meint, Henning May von AnnenMayKantereit hätte eine eindringlich, rauchige Stimme, der sollte sich mal das Organ von Vincenzo Lo Buglio, dem Sänger der ungarischen Jazz/Bluesminimalisten von Terra Profonda zu Gemüte führen. Mit voller Hingabe raunzt er im besten Tom Waits Stil seine Songs in Richtung des meist ungläubig staunenden Publikums. Lässt man sich auf die sicherlich manchmal recht fordernde Musik des ungarisch-italienischen Trios ein, wird man mit einem Konzerterlebnis belohnt, an das man noch lange zurückdenkt.
Protomatyr: In den letzten Jahren haben immer wieder Post Punk Bands den Weg an den Niederrhein gefunden. Vor drei Jahren Iceage und Savages mit ihrem legendären Auftritt auf der Hauptbühne, im letzten Jahr Nothing im Spiegelzelt. In diesem Jahr vertreten Protomatyr aus Detroit dieses Genre. Nicht ganz so Shoegazig wie Nothing im Vorjahr, ist das, was Protomatyr machen, rotziger und wütender. Getragen wird das Ganze durch den stoisch wirkenden Bariton von Sänger Joe Casey. Für Post Punk Freunde sicherlich einer der absoluten Höhepunkte des 35. Haldern Pop Festivals.
Tristan Brusch, Sprössling einer Musikerfamilie, verbindet Chansons, Schlager und zeitgenössischen Indie zu einer auf den ersten Blick recht kruden Musikmischung. Irgendwo zwischen Hildegard Knef, Klaus Hoffmann, Dagobert und Drangsal balanciert Brusch auf dem musikalischen Drahtseil, ohne annährend das Gleichgewicht zu verlieren. Ganz im Gegenteil: je ausgiebiger man sich mit Brusch beschäftigt, umso schwieriger ist es, wieder von ihm loszukommen.
De Staat aus Nijmegen sind in unserem hoch geschätzten Nachbarland absolute Größen im Musikgeschäft. Sie haben bis heute dort jedes große Festival vom Pinkpop bis zum Lowlands auf Links gezogen. Legendär ihr 2016’er Auftritt beim Pinkpop, bei dem Sänger Torre Florim den gesamten Song Witch Doctor mitten im Publikum gesungen und dieses um ihn herum eine Art holländischen Stammestanz aufgeführt hat. Würde man die Band, was ihre Popularität in ihrer Heimat angeht, mit einer Band hierzulande vergleichen, dann müsste man mindestens bei der Größenordnung Beatsteaks ansetzen.
The Lytics: Dass Hip-Hop und Haldern gut zusammenpassen, hat nicht zuletzt im vergangenen Jahr Loyle Carner mit seiner großartigen Show im Spiegelzelt bewiesen. Auch die Lytics aus Winnipeg in Kanada sind auf dem Alten Reitplatz keine Unbekannten. Zum einen veröffentlicht das Hip-Hop Familienunternehmen ihre neue Platte „Float on“ (VÖ 07.09.2018) auf Haldern Pop Recordings, zum anderen waren sie bereits 2016 zu Gast auf der Hauptbühne und schafften es als erste Band am Samstagmorgen, die müden Knochen der Besucher im Nu in Schwung zu bringen. Was vor zwei Jahren ganz ausgezeichnet auf der Hauptbühne funktioniert hat, wird im Spiegelzelt zu einem ordentlichen Abriss werden. Word!
INFIDELIX: Hip-Hop zum Zweiten. Für Berliner oder die, die in der Stadt des Öfteren unterwegs sind, dürfte INFIDELIX kein Unbekannter sein. An irgendeiner Straßenecke – sei es auf dem Alexanderplatz, der Schönhauser Allee oder in der Nähe der Oberbaumbrücke – hat man den Rapper, der mit bürgerlichem Namen Bryan Rodecker heißt und aus Texas stammt, schon gesehen und so schnell nicht mehr vergessen. Zu eindringlich sind seine Auftritte bei Wind und Wetter vor manchmal nicht mehr als einer Handvoll Zuhörern. Die Anzahl dieser ist Rodecker jedoch egal, Hauptsache, er erreicht sie, wenn er Lines droppt wie „I had a dream/ When I was just a little kid/ That one I will be/ King of the shit“. Und das gelingt ihm auf der Straße immer und wird ihm auch in der Haldern Pop Bar gelingen. Nochmal Word!
Jade Bird: Gerade mal 20 Jahre jung liefert Jade Bird den perfekten Soundtrack für einen Roadtrip durch den Sommer. In England schon kein unbeschriebenes Blatt mehr, erinnert die Stimme der jungen Londonerin an die von Cerys Matthews der 90’er Britpop Band Catatonia. Bird ist eine dieser Künstlerinnen, die aus dem Einheitsbrei vieler herausragt und die man auf dem Haldern noch in kleinem Rahmen sehen kann, bevor es steil bergauf geht mit der Karriere.
King Gizzard and the Lizard Wizard: Für eine Band, die in einem Jahr 5 (in Worten FÜNF) Alben veröffentlicht, bedarf es keiner näheren Beschreibung. Hingehen und staunen!
White Wine: Die Band um den Wahl-Leipziger Joe Haege ist eine Naturgewalt. Bestaunen konnte man das auf dem Rock im Saal Festival in Haldern im Januar. Den Beginn des Auftritts bestritt Haege liegend irgendwo im Publikum. Was danach kam, war eine schwer in Worte zu fassende Achterbahnfahrt düsterer Soundwände, gespickt von wahnwitzigen Percussion-Soli Haeges. Ein Auftritt, der nicht nur wegen seiner verstörenden Theatralik, sondern auch aufgrund der wirklich guten Songs im Gedächtnis geblieben ist.
Canshaker Pi kommen aus Amsterdam und spielen Indie Rock in der Tradition Pavements, Sonic Youth oder auch YUCK. Da überrascht es nicht, dass Stephen Malkmus von Pavement höchstselbst die Regie bei der Plattenproduktion übernommen hat. Herausgekommen ist ein mitreißendes Album, welches gerade live seine gesamte Energie entfaltet. Absolute Empfehlung für diejenigen, die es etwas wilder mögen.
Amyl and The Sniffers werden nach dem Neuseeländer Marlon Williams sicherlich die weiteste Anreise zum Festival haben: Aus Australien kommt die Band um die charismatische Sängerin Amy Taylor. Sie selbst beschreibt ihren Musikstil, der irgendwo zwischen klassischem 70’er Punkrock und der Riot Grrl Bewegung der 90’er angesiedelt ist, sehr treffend als „short, fast and sharp“. Also, die alten Docks, Fred Perry Polo und Bomberjacke aus der Klamottenkiste kramen, die Frisur zu nem ordentlichen Vokuhila stylen und dann ab in den Moshpit!
Jonas David: Kurz vor Toresschluss erreicht uns aus Haldern die frohe Kunde, dass Jonas David noch kurzfristig als Überraschungsgast ins Programm gerutscht ist. Nach seinem letzten Album 2011 war es lange ruhig um den Wuppertaler, bevor er im Herbst 2017 mit seiner EP „Five Stones“ wieder auf sich aufmerksam machen konnte. Wer Jonas David nicht kennt, dem sei das Video zur Single „Stay For“ wärmstens ans Herz gelegt. Also, haltet die Augen offen, irgendwann Samstag im Jugendheim!
Im Vergleich zum letzten war auch bei uns in diesem Jahr ein ganz besonderer Spürsinn gefragt, da auch für uns sehr viele Unbekannte im Programm versteckt sind. Wir hoffen, euch mit unseren Empfehlungen eine kleine Hilfestellung geliefert zu haben und würden uns freuen, den ein oder anderen bei den Konzerten am zweiten Augustwochenende im Lindendorf anzutreffen. Sollte der Sommer bis nächste Woche tatsächlich ähnlich heiß bleiben wie in den letzten Wochen, gilt es ein wenig aufeinander aufzupassen, zwischen dem Bier auch mal das ein oder andere Wasser einzustreuen und vor allem nicht in die typische Festivalhektik zu verfallen, die man von den Großfestivals kennt. Aber da braucht man sich beim Haldern Publikum eigentlich keine Sorgen zu machen. Wir freuen uns jetzt noch eine Woche vor und sehen uns dann spätestens kommenden Donnerstag auf der Wiese, Höhe Tonstudio Keusgen.
Fotos: DESC Photography