Das 36. Haldern Pop Festival ist seit gut einer Woche Geschichte und es fühlt sich wie jedes Jahr so an, als hätte man mit dem Ende des Festivals das Ende des Sommers eingeleitet. Es kann aber auch einfach sein, dass es der Post-Festival-Blues ist, der einem die auf dem Festival geschärften Sinne im Anschluss ein wenig vernebelt. Was bleibt in Erinnerung von den drei wieder mal wundervollen Tagen im Lindendorf? Da wäre zu allererst erneut die Feststellung, dass man den Eindruck gewinnt, Besucher, Einheimische und Veranstalter seien nach all den Jahren so etwas wie Freunde geworden, bei denen einmal im Jahr große Wiedersehensfreude herrscht. Und wie das so unter Freunden ist, verhält man sich auch dementsprechend. Man ist achtsam, respektvoll und wahnsinnig hilfsbereit untereinander. Symbolisch hierfür ist das Bild, das Haldern Pop am Abend der Abreise über ihre sozialen Medien verbreitete: Ein Campinggelände, das von den Besuchern nahezu müllfrei und aufgeräumt hinterlassen wurde. Während bei anderen Festivals der Campingplatz im Anschluss wie eine veritable Müllhalde aussieht, kann man beim Haldern wahrscheinlich einen Tag nach Beendigung des Festivals die Wiese wieder guten Gewissens ihren rechtmäßigen Besitzern, den Kühen, übergeben. Warum das hier funktioniert und bei anderen Festivals nicht? Weil die Gäste das Gelände inzwischen als so etwas wie ihr Wohnzimmer ansehen und man das ja auch nicht verwüstet hinterlässt, wenn man eine Party gefeiert hat.
Kommen wir zu unserem immerwährenden Lieblingsthema beim Haldern, dem Wetter. Der Himmel versprach nahezu an allen drei Tagen den typischen Niederrheinischen Landregen, der Gäste und Veranstalter in den letzten Jahren zum treuen Begleiter wurde. Aber weit gefehlt. Außer einem etwas heftigeren Schauer am Freitag und ziemlich böigem Wind am Samstag kann man von perfektem Festivalwetter sprechen. Wobei zur Wahrheit auch gehört, dass ein für Freitag angekündigtes Unwetter sich kurzfristig entschloss, südlich am alten Reitplatz vorbeizuziehen.
Was nun noch zu einem gelungenen Wochenende fehlt, sind Bands, die es schaffen, zusammen mit dem Publikum die berühmten „Haldern-Momente“ zu kreieren. So viel vorweg, auch in diesem Jahr ist dies einigen Bands, die man vor dem Festival gar nicht auf dem Schirm hatte, gelungen.
Die Ehre, den Donnerstag auf der Hauptbühne zu eröffnen, wurde in diesem Jahr DURAND JONES AND THE INDICATIONS zuteil. Bei Sonnenschein und dem ersten kühlen Getränk eine gute Möglichkeit, sich im wahrsten Sinne des Wortes mit den souligen Motown-Klängen in das Festival hinein zu grooven.
Nach Jones und seinen Indications ist GERRY CINNAMON an der Reihe. „Gerry wer?“ werden jetzt die meisten fragen. Kleiner Tipp zur Völkerverständigung: Stellt diese Frage niemals, wenn ihr in Schottland seid! Warum? Weil der schmächtige Kerl mit seiner Gitarre in seiner Heimat ein Superstar ist, der gerne mal vor 45.000 völlig eskalierenden Leuten spielt. Gut, in Haldern findet sich nicht diese Menge an Schotten, aber die 15, die es sich ganz vorne vor der Hauptbühne gemütlich gemacht haben, vermitteln einen Eindruck, welchen Stellenwert Gerry Cinnamon in seiner Heimat genießt. Dabei erfindet er das Singer-/Songwriter Genre nicht neu, sondern tut das, was er tut, mit einer großen Leidenschaft und einer unfassbaren Portion Charme. Einzig, dass er nicht in Düsseldorf ist, hätte man dem guten Gerry mal sagen können.
KADAVAR aus Berlin wirken ein wenig aus der Zeit gefallen. Lange Haare, lange Bärte und Schlaghosen. Das Brett, das sie dem Haldern Publikum von der Hauptbühne um die Ohren hauen, ist jedoch alles andere als aus der Zeit gefallen. Gut, die Musik erinnert zwar an Sabbath, kommt aber dermaßen frisch, dynamisch und laut um die Ecke, dass es gerade für diejenigen im Publikum, die auf härtere Klänge stehen, eine große Freude ist, der Show des Berliner Trios beizwohnen.
Beschließen dürfen den Hauptbühnendonnerstag zunächst die als Special Guests angekündigten GIANT ROOKS aus Hamm und im Anschluss daran FABER, der als Ersatz für den erkrankten Dermot Kennedy eingesprungen ist. Beide machten ihre Sache gut. Giant Rooks werden irgendwann wahrscheinlich als erste internationale Stadionband aus Deutschland, die nie ein Album herausgebracht hat, in die Geschichtsbücher eingehen. Wahnsinn, wie professionell die Band um Sänger Frederik Rabe inzwischen ist.
Dem durch seinen Marketing Fail – wenn es denn einer war – etwas in die Kritik geratene Faber, merkt man bei seiner Show an, dass er bemüht ist, alles richtig zu machen. Dabei wirkt er zu Beginn ein wenig hölzern. Im Laufe der Show hat er das Publikum auf seiner Seite und feiert so einen gelungenen Abschluss auf der Hauptbühne.
Die letzte Show des Tages gehört in diesem Jahr dem MOKA EFTI ORCHESTRA im Spiegelzelt. Die Babylon Berlin Gucker bekommen jetzt bestimmt ein wenig Schnappatmung, diejenigen, die mit der Serie nichts am Hut haben, werden dem Konzert in der Mehrzahl den Weg ins Schlafgemach vorgezogen haben. FEHLER! Als jemand, der nichts von Babylon Berlin gesehen hat, muss ich gestehen, völlig baff gewesen zu sein von der Intimität und dem 20er Jahre-Gefühl, welches das 14-köpfige Ensemble ins Zelt gezaubert hat. Wie so oft wurde der Mut der Veranstalter belohnt und jeder, der zu so späten Stunde im Zelt dabei gewesen ist, wusste am nächsten Tag von einem ganz besonderen Konzert zu berichten.
Der Freitag beginnt in diesem Jahr sehr früh mit ALEX THE ASTRONAUT in der Kirche. Bei der Ankunft wird klar, dass viele Haldern Gänger*innen bereits frühzeitig aus ihren Zelten gekrochen sind, um der Australierin zu lauschen. Die Eingangsschlange macht ihrem Namen alle Ehre, schlängelt sie sich doch einmal durch die Außengastronomie des benachbarten Doppeladlers und um die Ecke bis fast zum Supermarkt. Einmal in der Kirche, wird schnell klar, warum so viele Alex the Astronaut sehen wollen. Nur mit Akustik- oder E-Gitarre bewaffnet, trägt sie ihre kleinen Geschichten mit einer Authentizität vor, dass man nicht anders kann, als ihr an den Lippen zu hängen. Sie selbst scheint der Ort und die Aufmerksamkeit des Publikums zu solch frühen Stunde sehr zu berühren. Einzig die saunaähnlichen Temperaturen in der Kirche schmälern dieses großartige Konzert ein wenig.
Den Auftakt im Spiegelzelt am Freitag machten Alex the Astronauts´ Landsmänner von THE CHATS. Bereits am Vortag hatte das blutjunge Trio das Niederrheinzelt komplett zerlegt, so dass die Erwartungshaltung an ihr Konzert im etwas mondäneren Spiegelzelt entsprechend hoch war. Soviel vorweg: Erwartungshaltung dürfte dem ganz schön angepissten Dreier von der Sunshine Coast reichlich egal sein. Hier ist eher das Motto: „Raus, Bühne zerlegen, Publikum auf Links ziehen und sich aus dem Staub machen“. Gesagt, getan. Was für ein Orkan! Die Tour im November sollte man sich als Musik- und Frisurenliebhaber nicht entgehen lassen.
Apropos Erwartungshaltung. Dass die FONTAINES D.C. ihren Slot „nur“ im Spiegelzelt hatten, hat bei vielen bereits vor dem Festival für Kopfschütteln gesorgt. Gelten die Iren doch als das nächstes große Ding im Post Punk. Entsprechend episch war dann auch die Schlange vor dem Spiegelzelt. Denjenigen, die einen der begehrten Plätze im Zelt ergattert haben, dürfte dann auch bereits nach wenigen Takten klar gewesen sein, dass der Hype, der um die Band gemacht wird – ausnahmsweise – völlig gerechtfertigt ist. Eine Band, die unfassbar auf den Punkt ist und ein Sänger, der einem, spätestens als er sich ein Feuerzeug ans Hemd hält, gehörig Angst macht. Darüber hinaus haben die Fontaines genau das, was vielen Bands in diesem Genre fehlt: Songs. Leider spielen sie an diesem Freitagabend insgesamt recht wenige davon, so dass nach einer halben Stunde relativ abrupt Schluss ist. Warum die Band nicht ihre gesamte Spielzeit ausgereizt hat, wird wohl ewig ihr Geheimnis bleiben. Schade!
Zugegeben, wir sind keine ausgewiesenen SOPHIE HUNGER Fans. Der Auftritt auf dem Kaltern Pop Festival ließ uns vor einigen Jahren etwas ratlos zurück. Entsprechend wenig vorfreudig machen wir uns nach den Fontaines D.C. auf den kurzen Weg zur Hauptbühne. Dort angekommen, ist das Konzert von Sophie Hunger bereits in vollem Gange und man merkt direkt, wie viel Lust die Schweizerin auf das Konzert bei ihrem Lieblingsfestival hat. Im Vergleich zum Kaltern Pop nimmt sie das Publikum an diesem Abend mit ihrer Ausstrahlung gefangen, singt, rappt und faucht sich durch ihre Songs. Hunger steht im Mittelpunkt, gibt die Zeremonienmeisterin, die Band in ihrem Rücken gleicht einem Uhrwerk. Höhepunkt ist sicherlich das Gitarrenduell zwischen Hunger und ihrem Gitarristen kurz vor Ende des Sets. Schön, wie Sophie Hunger nach dem letzten Song, völlig glücklich und losgelöst von der Bühne hüpft.
Selten hat man auf dem Haldern Pop Festival eine derart gespannte Vorfreude gesehen wie vor dem Auftritt der IDLES. Nach ihren Auftritten beim Festival vor zwei Jahren und beim Rock im Saal in Haldern ein halbes Jahr später, merkt man, dass das Konzert auf der Hauptbühne ein Heimspiel ist. Schon beim Soundcheck bahnt sich an, was auf das Publikum in der nächsten Stunde zukommen sollte. Eine aufgekratzte Band trifft auf ein aufgekratztes Publikum. Beste Voraussetzungen für einen Abriss. Was sich dann tatsächlich während des Konzertes auf und neben der Bühne abspielt, spottet jeder Beschreibung. Es dauert keine Minute, bis der wie immer nur in Badeshorts bekleidete Gitarrist Mark Bowen ins Publikum stürmt. Die Band ist keineswegs irritiert, das wäre sie wahrscheinlich, hätte Bowen dies nicht getan. Sänger Joe Talbot geht auf der Bühne auf und ab wie ein im Käfig gehaltener Tiger und feuert einen Song nach dem nächsten in Richtung des eskalierenden Publikums. Irgendwo zwischen aus dem Ruder gelaufenem Kindergeburtstag und anarchischer Punkrockshow liefert die Band aus Bristol ein unglaublich straightes Set ab. Bemerkenswert ist, dass die Band absolut keine Starallüren zu haben scheint. Vielmehr bedankt sie sich mehrfach höflich beim Haldern Pop Festival und explizit bei Stefan Reichmann, erwähnt, wie wichtig solche Festivals heutzutage sind und scheut es darüber hinaus nicht, sich ganz klar gegen Sexismus, Homophobie, Rassismus und den Brexit zu positionieren. Ein Konzert, das sicherlich einen der vorderen Plätze in den Haldern Geschichtsbüchern inne haben wird.
Der Festivalsamstag startet für uns mit den DAUGHTERS nicht ganz so früh wie der Vortag. Umso wacher ist man nach dem Aufritt der Band aus Providence, Rhode Island. Eins steht fest: Mit Sänger Alexis S.F. Marshall will man sich nicht zwingend den Tourbus teilen. Irgendwo zwischen Gollum und dem verstoßen Bruder von Lars Eidinger liefert der junge Mann eine Performance ab, bei der man sich bis zum Ende nicht ganz sicher ist, ob man ihm das Selbstzerstörerische abnimmt oder ob es sich einfach um eine Performance handelt, die ein wenig über das Ziel hinausschießt. Zum infernalischen Krach seiner wahnsinnig gut eingespielten Band, windet sich Marshall über die Bühne, klettert auf die Boxen, stürmt ins Publikum, nachdem er sich von der Box in selbiges übergeben hat, nimmt Zuhörer in den Schwitzkasten und peitscht zu guter Letzt seinen nackten Oberkörper auf einer Box stehend mit seinem Gürtel aus. Spätestens an dieser Stelle ist man sich sicher, dass dies alles ein wenig drüber ist. Schade eigentlich, denn musikalisch sind Daughters eine wirklich tolle Band, die äußerst perfekt einen mitreißenden Mix aus Post Punk, Progressiv und Industrial auf die Bühne bringt.
Den Preis für das beste Bühnenbild des Wochenendes gewinnt definitiv LOYLE CARNER. Eine Tür, ein Plattenschrank mit DJ Pult und drei gerahmte Fußball Trikots, fertig ist das Wohnzimmer auf der Hauptbühne. Nach seinem großartigen Konzert vor zwei Jahren im Spiegelzelt, konnte man gespannt sein, ob der junge Brite, dessen England-Tour im Herbst in sage und schreibe sechs Minuten komplett ausverkauft war, es schaffen würde, auf der großen Bühne eine ähnliche Intimität zu schaffen wie im Spiegelzelt. Zu Beginn seines Auftritts scheinen sich die Zweifel ein wenig zu bestätigen. Carner wirkt etwas nervös, das Publikum noch etwas verhalten. Aber Haldern wäre nicht Haldern, würde das Publikum es einem Künstler nicht leicht machen, die Nervosität im Nu zu überwinden. Spätestens beim dritten Song hat Loyle Carner das Publikum und es wird klar, warum sich der Londoner in England momentan einer so großen Beliebtheit erfreut. Ein Sympath, der keines der vielen nervigen Hip-Hop Klischees bedient, darüber hinaus eine wahnsinnig smoothe Art zu Rappen hat und dessen Songs einen hohen Wiedererkennungswert haben. Zudem ist es, nachdem, was einem alles an homophobem, sexistischem und „brunnshohlem“ Schrott von deutschen Hip-Hoppern vorgesetzt wird, eine Wohltat, einem jungen Rapper zuzuhören, der tatsächlich etwas Relevantes zu sagen hat. Dies tut Loyle Carner dann auch, bevor er von der Bühne geht, indem er mit einem lauten „Fuck Brexit“ klar macht, was er von einem Austritt Großbritanniens aus der EU hält.
Bei der offiziellen Vorstellung einiger Bands im Juni fielen besonders die HAIKU HANDS aus Australien ins Auge und vor allem ins Ohr. Man konnte es der anwesenden Journaille förmlich ansehen, dieses „Ach, Reichmann, was hast du dir denn dabei wieder gedacht?“. Stefan Reichmann wiederum konnte man ansehen, wie diebisch ihn diese Reaktion gefreut hat, in dem Wissen, dass diese drei australischen Dance Pop Mädels das Zelt in seinen Grundfesten erschüttern werden. Wie nahezu immer sollte der erfahrene Festivalmacher Reichmann recht behalten. Mit welcher Energie und Spielfreude das Trio aus Sydney das komplette Zelt innerhalb kürzester Zeit zum Ausrasten bringt, ist schlicht überwältigend. Die Leute stehen auf den Tischen der Separees und selbst hinter der Theke wird ausgelassen zu den niemals plumpen Dance Pop Stampfern gefeiert. Definitiv einer der Haldern Momente 2019.
Den Abschluss des 36. Haldern Pop Festivals bestreiten die DISTRICTS im Spiegelzelt. Der – Achtung, Umschreibung aus der Hölle – erdige Rock der Band aus Pennsylvania bietet nach viel Elektronik und den doch recht ruhigen Klängen auf der Hauptbühne am Festivalsamstag, einen perfekten Abschluss für das diesjährige Haldern Pop Festival. Im Vergleich zu den letzten Jahren wirkt die Band deutlich entspannter und vor allem eingespielter. Irgendwie will man, dass das Konzert nie endet, zum einen, weil die Band wirklich Spaß macht und zum anderen, weil man sich sicher ist, dass mit der letzten Zugabe, dem letzten Takt, das 36. Haldern Pop Festival Geschichte sein wird. So gehen gegen halb vier die Lichter im Spiegelzelt an und das Publikum verlässt müde, aber glücklich, das Zelt in Richtung Campingplatz, in der Gewissheit, sich im nächsten Jahr zur selben Zeit an selber Stelle wiederzusehen.
Ach, Haldern! Auch wenn inzwischen sieben Spielorte recht unübersichtlich sind, auch wenn mal die ein oder andere Band absagt, dieses Festival ist und bleibt für alle, die dabei sind – angefangen bei den vielen ehrenamtlichen, fleißigen Helfern, über die Dorfbewohner bis hin zum Publikum und nicht zuletzt für viele Bands – eine Herzensangelegenheit. Wir können es kaum erwarten, unsere Zelte im kommenden Jahr wieder auf dem Campingplatz an der Lohstraße aufzuschlagen, um alte und neue Freunde wiederzutreffen. Wem ein Jahr zu lang ist, dem sei wärmstens das Kaltern Pop Festival ans Herz gelegt: Haldern in noch kleiner, mit Bergen, Wein, Schüttelbrot und Dach über dem Kopf.
FÜR DIE WUNDERBAREN BANDFOTOS DANKEN WIR: DESC – Photography
Titelbild: Jan Martin v.d. Heide