Was mich in der Provinz rettete und was der Corona Virus beenden wird.
Was ist essentiell wichtig für die Existenz in der Provinz? Ein Führerschein! Was ist wichtig, wenn man selber noch nicht alt genug für die Fahrerlaubnis ist? Freunde, die einen haben! Viel wichtiger sind aber Freunde, die für provinzielle Verhältnisse einen außergewöhnlichen Musikgeschmack haben. So wusste ich erst nicht viel mit dem Angebot meines Freundes Thomas anzufangen, der meinte am Abend spiele eine Band aus Hamburg im ZAKK. Ich würde doch deutsche Texte mögen (Tote Hosen, abstürzende Brieftauben), das würde mir sicherlich gefallen. Am Abend dann im kleinen Raum des ZAKK, betrat ein Trio die Bühne mit einem Sänger, der einen Jeansanzug mit Reißverschluss trug, eine Siebziger – Jahre Frisur zum Besten gab und eine Firebird – Gitarre bearbeitete. Eine Mischung aus Hippie und Popper, wie man sie vom Schulhof nicht kannte, mit einer Gitarre, die den Metallern aus meiner Stufe Glückstränen in die Augen getrieben hätte. An dem Punkt war ich mit meiner Weltanschauung schon überfordert. „Bearbeiten“ ist übrigens eine richtige Beschreibung von dem, was der Frontmann da tat. Die Texte wurden im Stakkato halb gerappt, halb gesprochen, mit einer seltsamen Mischung aus Wut und Begeisterung, während die Rhythmusgruppe die Songs unerbittlich vor sich hertrieb. Der Name des Sängers war Jochen Distelmeyer und der der Musikgruppe Blumfeld. Bis heute wohl eines der einschneidendsten Livekonzerte. In der Woche darauf wurden die beiden bisher erschienen Platten – ICH-MASCHINE und L’ETAT ET MOI – gekauft, wovon letztere die melodischere, strukturierte war, ICH-MASCHINE aber die rohe Version, die dem Liveerlebnis am nächsten kam. Die Größe der Platte war, alltägliche Probleme mit Liebe, Akne und der eigenen Selbstverwirklichung zu abstrahieren und unerbittlich auseinander zu nehmen. Verächtlich könnte man sagen, Ich-MASCHINE ist eine reine Therapiesitzung, wohlwollend kann man sagen, die Platte ist eine unerbittliche Selbstreflexion ohne dabei als solche wahrgenommen zu werden. Bilder und Metaphern, welche die eigene kleinbürgerliche Lebenswirklichkeit und – wahrheit auseinandernehmen und das ist die wahre Größe, irgendwie zu etwas Neuem zusammensetzen. Dazu kommt die minimalistische Instrumentierung, die zwischen reinem Beat, Körperlichkeit und dahingerotzten Gitarrenakkorden schwankt. Zudem wurde Ich-MASCHINE zu einem Begleiter durch die Pubertät, durch die 20er und selbst 30er Jahre des Lebens, da sich immer wieder neue Codierung – und Deutungsebenen (vielleicht abhängig vom Alter) auftaten und die eigene, gegenwärtige Situation wieder einer unerbittlichen Selbstreflexion unterzogen. Ständiger Begleiter bleibt natürlich „Zeittotschläger“, wobei die aktuelle Coronakrise, deren Lösung nur in der Isolation und Abschottung besteht, das Ende des dort besungenen Zeittotschläger – Typus, der seine Zerstreuung im Nachtleben und Eskapismus findet, bedeuten wird. So kommt Pickelface not back into Town.