Viele Menschen – die ohne Kinder, Home Schooling, die nicht in Pflegeberufen und prekären Jobverhältnissen in der Lieferbranche arbeiten – haben sich während der Corona – Zeiten ja gefragt, was so anzufangen ist mit all der Zeit, wenn alles geschlossen ist. Karl aus Krefeld sind da schon fast übereifrig gewesen und haben gleich zwei EPs fertig gestellt. Von Pop bis Polka reicht die musikalische Palette, welche die jeweils fünf Songs pro Palette ausbreiten, mit einem Frontmann, der in seinen besten Momenten an einen betrunkenen Sven Regner erinnert. Dabei bildet ROSTIGE ZEITEN die dunkle Seite der Macht, während GEBEN SIE AUF trotz des Titels zurück ans Licht führt.
Rostige Zeit – Mit dem Rücken zur Wand
Im ersten Moment bleibt ein unentschiedenes Bauchgefühl. Handelt es sich bei Karls‘ neuer EP ROSTIGE ZEITEN um die Betrachtungen von Menschen in der Midlife Crisis, welche die letzten Jahre Revue passieren lassen oder handelt es sich vielmehr um eine gesunde, zeitlose Portion Lebensfreude mit einer feinen Note Ironie gepaart? Bevor diese Fragen weiter diskutiert werden, bleibt die Feststellung ROSTIGE ZEITEN macht Spaß! Die Mischung aus Brocken Chanson, Polka, Ska und Indie funktioniert vom ersten bis zum letzten Song. Die Songs laden zu schwankenden Tanzschritten ein ohne dabei eine klebrige Gemütlichkeit verströmen zu wollen. Eher so eine Art Lebenswille, der sich nicht von Rückschlägen vertreiben lässt und sich am besten gegen Ende eines langen Abends begehen lässt, wenn das Kind eh schon in den Brunnen gefallen ist. Die Band knüpft an den Charme ihrer ersten EP ALLES KARL an. Die leicht angekratzte und betrunkene Stimme des Frontmanns lässt die Hörer*innen schon mal denken, da spricht der niederrheinische Tom Waits zu einem, der mit einem leicht spöttischen Lächeln über den Dingen schwebt, bis – ja bis auch er durch die Wirren der Liebe wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird. Die Hooks funktionieren von dem Rockstandard „Verkleidet“ über das kaputt-romantische „Lass Freunde bleiben“ bis zu den Ska-Polka-Nummern „Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt“ und „Pol“. Die beiden Songs sind der eigentliche Höhepunkt der EP, wird beim Hören doch unweigerlich das Ministerium der „Silly Walks“ beigetreten. Um zum Anfang zurück zu kehren. Ja, manche Textzeilen sind arg einem gewissen Lebensalter zuzuordnen, meist steht jedoch im Zentrum eine Sehnsucht, die wohl lebensalterunabhängig ist und eine melancholische Begleitung des Lebens darstellt, somit vergessen wir das mit der Midlife Crisis ganz schnell.
Geben Sie auf
Auf GEBEN SIE AUF weichen die krachigen Gitarrenklänge von ROSTIGE ZEITEN eingängigen Pianomelodien, welche die Songs musikalisch um einiges zugänglicher machen, ihnen fast eine poppige Note verleihen. Die Botschaft dahinter bleibt aber die gleiche, das Leben ist irgendwie unfair und wir haben trotzdem Spaß dabei. Dies geschieht durch die Absage an die konventionellen Karrierestrukturen wie im Titelstück oder dem Rückzug auf die Beobachterrolle, die schmunzelnd und ein wenig verwundert „Am Fenster“ auf die Mitmenschen – Junkies und Selbstverkäufer – eingenommen wird. Leider, ja leider lässt das Leben einen nie in seiner Komfortzone und holt einen durch die Fragen der Mitmenschen, wo man war, als man dringendsten gebraucht wurde, wieder ein. Deshalb kann man aufgeben, sich verweigern und doch wird man aus dem Rennen nie ganz entlassen. Durch den wohligen Indie-Pop, in den diese Botschaft eingebettet ist, wird das Ganze eher noch eindringlicher, manchmal ein wenig deprimierend, aber dann retten die Pianoklänge wieder über dieses Tief hinweg.
VÖ: Juni/ August 2021; Karl auf Soundcloud
Tracklist Rostige Zeiten: Alles Karl/ Verkleidet/ Lass Freunde bleiben/ Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt/ Pol
Tracklist Geben sie auf: Geben Sie auf/ Schatten/ Nutz Deine Zeit/ Wo war Dein Herz/ Wie kann es sein?
Unsere Wertung: Rostige Zeiten 6/10; Geben Sie auf 7/10