Ist die 1980 in Berlin gegründete Gruppe EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN eine gut aufgestellte, kunsthandwerklich agierende Theaterkapelle oder eine der großen Stimmen des deutschen Pop? Jetzt sagen manche: Das ist doch gar kein Pop. In der 12-teiligen 1999er Dokuserie „POP 2000“ beklagt NEUBAUTEN Sänger Blixa Bargeld, dass DEPECHE MODE die ikonischen Maschinengeräusche in ihrem 1984er (in den Westberliner Hansa-Studios aufgenommenen) Hit „People Are People“, bei seiner Band geklaut hätten. Das stimmt zwar, zumindest wenn man Produzent Gareth Jones als auch Alan Wilder glauben will, nicht. Aber der DEPECHE MODE Track ist eindeutig von der Klangästhetik der Berliner beeinflusst. Und somit gehören EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN natürlich zum Pop. Amen.
Im gefühlt ausverkauften Kölner E-Werk, präsentiert die Band ihr aktuelles, von Bargeld als ihre Berlin-Platte betiteltes Album „Alles in allem“. Mit zehn Stücken stellt es auch den Löwenanteil der Setlist am heutigen Abend. Vor einem großen weißen Vorhang – ohne Kunstnebel oder ähnliche Sperenzchen – spielt die Band ausschließlich Material aus der Phase nach ihrem großen 2000er Album „Silence Is Sexy“. Mit der Platte haben sich die NEUBAUTEN, das kann man ohne Diskussion behaupten, damals neu erfunden. Ähnlich wie Bargelds ehemaliger BAD SEEDS Vorsitzender Nick Cave mit seinem Meta-Meisterwerk „Push the Sky Away“. Dem anwesenden Publikum, das nicht nur optisch zu großen Teilen eindeutig einen Punk-, Hobbythek-, oder anderen Avantgarde-Hintergrund besitzt, gefällt das anscheinend nur teilweise. Zwischenrufe fordern älteres Material, wie „Sehnsucht“ vom 1981er Album „Kollaps“. Bargeld (der in den letzten Jahren immer putziger wird) meint darauf, dass das Lied „ja von RAMMSTEIN wäre und sie es gar nicht spielen könnten“. Bei der Aufführung von „Sonnenbarke“ sagt jemand neben mir, dass er lieber „Halber Mensch“ hören würde. Ich denke kurz, dass ich lieber „Sonnendeck“ hören würde. Bargeld geht aber mit den eigentlich ganz charmanten Zwischenrufern (warum machen das eigentlich fast immer nur Typen?) ebenfalls sehr charmant und schlagfertig um. Der heimliche Held des Abends ist aber auf jeden Fall Alexander Hacke. Der sieht in seinem Outfit aus, wie eine Kiezgröße mit großem Herz, der dir aber jederzeit, wenn du ihm dumm kommen solltest, eine reinhauen würde. Aber dir danach ein Bier (oder den Krankenwagen) bestellt.
Vor dem Köln-Konzert waren die Setlists der letzten Konzerte nahezu identisch. Um so erfreulicher und überraschender ist es, als die NEUBAUTEN zu ihrem Zugabenteil ansetzen, und eben nicht ihr meistgestreamtes Lied „Sabrina“ folgt, sondern u.a. das ordentlich scheppernde „Let’s Do It a Dada“. Bargeld kündigt vorher an, dass er „keine Ahnung hat, was jetzt folgt“. Man glaubt es ihm. Jetzt kommt auch der weiße Bühnen-Hintergrund zum Einsatz. Die Band wird von vorne synchron zur Musik aus verschiedenen Perspektiven angeleuchtet, und somit ihre Umrisse auf verschiedene Leinwand-Positionen projiziert. Bei der hohen Bühnenhöhe des E-Werks ist das ein zwar sehr einfacher, aber wirklich spektakulärer Effekt. Für einen kurzen Moment wähnt man sich in einer ehemaligen Fabrikhalle im frühen 1980er Westberlin. Das gefällt den meisten Zuschauern auch sehr gut.
In der Konzertstätte E-Werk hätten mehr von den schnelleren (und weniger von denen nach Franz Josef Degenhardt / Berthold Brecht riechenden) Stücken eindeutig besser funktioniert. Sympathisch ist es trotzdem, dass die Crowdfunding gestützten NEUBAUTEN definitiv keinen Fanservice abliefern. Dennoch wäre ein leise Show, wie beispielsweise in Venues wie der Elbphilharmonie – also klassischen Konzertssälen – durchaus reizvoll. Der anfangs erwähnte Theatermusik-Charakter ist (wenn man sich das Material nochmal zuhause anhört) jedenfalls wie weggewischt, angesichts der aufwendigen Produktion.