Endlich mal wieder ein anständig gefüllter Tanzbrunnen. Am hinteren Rand halten sich die Muttis und Vatis auf. Vorne sind die Kids. Und es sind viele gekommen. Das Wetter spielt diesmal auch mit. Ich schleiche mich an die linke Seite, damit ich vielleicht doch ein gutes Foto schießen kann. Es bleibt bei dem Wunsch. Nach kurzer Zeit bin ich von um die achtzehn Jahre alten Teenagern eingekesselt. Zwei Mädchen sitzen vor mir auf dem Boden und schreiben unter der Überschrift „Summer Sentences“ irgendwelche Dinge in bunter Farbe auf ein Blatt Papier. Aus Diskretionsgründen schaue ich nicht genauer hin. Ich schätze die beiden auf ein Alter von ungefähr 16 Jahren. Eine der beiden trägt Rosanna Arquette Pulp Fiction Gedächtnis Piercings. Gut, dass ich keine Kinder habe.
Dann betritt ein unfassbar gutgelauntes Grinsekätzchen namens Marlon Williams die Bühne. Zu Halbplayback begleitet der entliebte Ex-Partner der Gothic-Folk Sängerin Aldous Hardin sich abwechselnd auf der Gitarre und auf dem Keyboard. Wie das genau abläuft habe ich leider wieder vergessen. Jedenfalls wird er frenetisch bejubelt. Zu Recht. Seine samtene Stimme ist über alle Zweifel erhaben. Außerdem wird jedes Lied unfallfrei vorgetragen. Die Menge tobt. Dann singt er „he’s all to me and more, nothing can touch my boy“. Ich verstehe statt „boy“ das Wort „balls“ und muss milde schmunzeln. Sein Auftritt ist dann auch irgendwann durchgestanden.
In der Pause zwischen Marlon und Lorde verteilen Sicherheitsleute – wohlgemerkt bei angenehmen 20 Grad – werfend Wasser-Tetrapacks ins Publikum. Die Publikumsreaktion mit ihrer einfordernden Vehemenz wirkt befremdlich; man wähnt sich für kurze Zeit nicht bei einem frühlingshaften Konzertabend, sondern bei der Essensausgabe der Uno-Flüchtlingshilfe in einem Krisengebiet.
Ein schwarzer Vorhang verhüllt noch die Bühne. Irgendwann stellt sich an jeder Seite jeweils ein Bühnenmitarbeiter auf, um das Fallen des Vorhangs zum Showbeginn zu initiieren. Ich rechne mit mindestens gut choreografierten Nebel- und Lichteffekten, heimlich mit atemberaubenden Pyros und Konfettikanonen. Als es dann so weit ist und der Vorhang fällt, enthüllt er die Band von Lorde. Die ist in urinfarbene (bei akutem Nierenversagen) Uniformen gekleidet. Im Zentrum der Bühne ist ein Kreis zu sehen, auf dem eine im 45 Grad Winkel aufgelegte Holztreppe liegt. Der Aufbau kann und wird im Laufe der Show immer wieder an verschiedene Positionen bewegt werden. Eventuell sinnstiftende Metaebenen oder Gründe erschließen sich mir dafür nicht. Was aber nichts bedeutet. Lorde, die dann auch unglaublich gut gelaunt erscheint und Tanzvorführungen darbietet, als hätte sie sich ein Frettchen ins Hosenbein gesteckt, nimmt zusammen mit ihrer Band immer wieder auf der Holztreppe Platz. Das Ganze ist ästhetisch irgendwo zwischen der Bühnenshow von THE POLYPHONIC SPREE und den Oberammergauer Passionsspielen angesiedelt. Letztere passen heute auch thematisch zu gut: Lorde erzählt nämlich während der Show, dass ihr auch ab und zu Gott erscheinen würde. Nämlich dann, wenn sie sich aufrafft um mit ihrer Töle gemeinsam spazieren zu gehen. Das ist laut Lorde auch eine gute Methode, um schlechte Laune zu vertreiben. Man „würde immer ein kleines wenig besser gelaunt zurückkommen, als man es vor dem Aufbruch zum Spaziergang war“. Würde sie den letzten Hund kennen, mit dem ich einige Male spazieren war, würde sie dies sicherlich nicht so selbstsicher daher plappern. Ferner stellt die neuseeländische Frohnatur auch mehrmals fest, wie wunderschön das Publikum aussehen würde. Besonders freut sie sich, dass einige wohl gerade erst beim Friseur zu Besuch waren. Am allermeisten freut sie sich aber über die besondere Location. Beim Auswählen der Konzertvenues schaut sie sich wohl immer genau an – sagt sie jedenfalls – wo sie spielen will. Und das muss dann schon ein spezieller Ort sein. In den Tanzbrunnen „hätte sie sich direkt verliebt“. Tja, Pech gehabt, Billy Eilish!
Die Perfomance der Band ist wirklich ganz ordentlich. Die Produktion und ihr Klangbild ebenfalls. Zu leise ist es heute auch nicht. Leider wird meine Konzentration auf eine harte Probe gestellt. Ich befinde mich längst nicht mehr im vorderen Zuschauerbereich. Mich hat es nach hinten zu den Eltern verschlagen. Während ich darüber nachdenke, ob ich mir für € 40,- einen „Solar Power“ Jutebeutel kaufen soll, und dass der Gitarreneffekt bei „Fallen Fruit“ doch der selbe ist, den Mac DeMarco immer verwendet; der dich denken lässt, dass gleich das K-Hole einsetzt, schreckt mich ein eintreffender Helikopter aus meinen Pferdebetäubungsmittel-Träumen auf. Er dreht mehrere Runden über der Parkanlage, bevor er zur Landung ansetzt. Ich höre jetzt nichts mehr von der Musik. Kurze Zeit später folgt ein zweiter Hubschrauber. Der belässt es aber bei einem kurzen Überflug. Wäre für die Konzertbesucher schon ziemlich blöd, wenn sich die Besatzungen immer im Rheinpark auf ein Feierabend-Bier treffen würden.
Meine Konzentration ist wieder auf LORDE gerichtet, als ich wahrnehme, wie sie in engagiert-ergriffener Random-Castingshow-Stimmlage den ZOMBIES Klassiker „Time of the Season“ anstimmt. Anhand der ausbleibenden Publikumsreaktion ist davon auszugehen, dass das Lied unter den Konzertbesucher:innen unbekannt ist. An der Stelle, an der normalerweise Colin Blunstone „Who’s your Daddy“ singt, braust urplötzlich frenetischer Jubel auf. Der Grund für diese Reaktion bleibt mir völlig rätselhaft. Nach der zweiten Wiederholung des Refrains wird der Song abgebrochen.
Für die Statistiker: Insgesamt werden bei einer Spieldauer von ca. 100 Minuten 22 Stücke gespielt. „Royals“ – der große Überhit- wird als vorletztes Lied aufgeführt. Nach dem Konzert ist das Publikum mehr als zufrieden – und ich bin es auch. Vielleicht sind die Gründe dafür unterschiedlich.