In der alten Bundesrepublik gab es offensichtlich ein großes Faible für hypothetische Situationen und den Konjuktiv II. Wer bis 1984 den Dienst an der Waffe verweigern, also nicht zur Bundeswehr wollte, musste sich im Rahmen des „KDV-Prüfungsverfahren“ einer sogenannten „Gewissensprüfung“ unterziehen. Auf Fragen wie „Sie gehen mit ihrer Freundin durch den Wald spazieren, da kommt eine Gruppe Rocker/Russen auf sie zu, sie werden ihre Freundin erst vergewaltigen, dann töten, doch Sie haben zufällig eine Axt dabei…“, oder „Würden sie auf ein Flugzeug schießen, wenn es mit einer Atombombe an Bord auf ihre Stadt zufliegen würde, und sie sich neben einem Flugabwehrgeschütz befinden würden“, hatte man damals besser die „richtigen Antworten“ parat, oder war gut beraten, seine Koffer gen Westberlin zu packen, um dem Wehrdienst zu entkommen.
„Erstmal etwas rauchen, anschließend mit der Axt Christbäume schlagen, und mit dem Flugabwehrgeschütz lieber direkt auf das Kreiswehrersatzamt zielen, um der abgewichsten Fragerei ein Ende zu machen“, diese Replik eines zu allem bereiten Slackers, stammt aus dem Lied „Stell dir vüür“ vom Debütalbum der Kölner Band BAP. Es erscheint im November 1979 auf dem Kölner Indie-Label Eigelstein Records, ein paar Tage vor dem Nato Doppelbeschluss in Brüssel, einige Monate vor der Gründung der Grünen, einem Jahr vor Bekanntgabe von Franz Josef Strauß‘ Wackersdorf Plan, auf dem Höhepunkt von Günter Wallraffs Undercover-Enthüllungen über die Methoden der Bild-Zeitung, zwei Jahre nach dem „Deutschen Herbst“, dem traurigen Höhepunkt des RAF-Terrorismus.
Die LP mit dem etwas sperrigen Titel „Wolfgang Niedecken’s BAP rockt andere kölsche Leeder“, ist musikalisch näher an der Beat-Gruppe im Karnevalskostüm, den BLÄCK FÖÖSS, als am Brecht/Weill geschulten Polit-Rock der Kölner APO-Anarcho-Band FLOH DE COLOGNE. Der Airplay eines enthaltenen Doppel-Covers des MCCOY Hits „Hang on Sloppy“ und des Garage-Klassikers „Wild Thing“, sorgt immerhin für Platz 21 in den deutschen Albumcharts. Neben dem erwähnten Zivildienst-Stück, sind es aber die Dringlichkeit und Sprachgewalt, bei der dramatischen Einwanderungs-Erzählung „Neppes, Ihrefeld und Kreuzberg“, des Dylan von d’r Vringspooz, die aufhorchen lassen.
Das zweite Album „Affjetaut“, zusätzlich mit dem am Songwriting beteiligten Klaus „Major“ Heuser an Bord, erscheint 1980 noch bei Eigelstein Records. Zu gerne wäre man bei der Listening-Session der Kölner Major-Plattenfirma EMI Electrola, die auf jeden Fall stattgefunden haben muss, anwesend gewesen. Die erste Minute von „Ne schöne Jrooß“ klingt nach dem üblichen New-Wave Rock der Zeit. Wenn danach jedoch die erste Strophe beginnt – und es ist tatsächlich in diesem Moment völlig egal was Niedecken da singt, ob man ihn versteht, ob er auf Kölsch, Englisch oder Hindi singt – diese zeitlose und coole (nicht kühle) Produktion, mit einer Instrumentierung nur aus Percussion, Keybords, Bassgitarre und Niedeckens Stimme – das ist der Beginn der 1980er Jahre, der Beginn einer neuen Ära. Ein guter A&R Manager wird noch vor dem Refrain die vielleicht beste Entscheidung seines Lebens getroffen und beschlossen zu haben, diese neue Band unter Vertrag zu nehmen.
1981 erscheint mit „Für usszeschnigge“ die erste LP für EMI Electrola. Das erste von sieben (!) in Folge erscheinenden Alben, die auf Platz 1 in den deutschen Albumcharts landen. Auch hier hat man einen besonderen Album-Opener. Das knapp sechsminütige „Verdamp lang her“ braucht über drei Minuten, drei Strophen, bis der Refrain zum ersten Mal zu hören ist. Diese Masterclass des Songwritings, wird auf dem Nachfolger „Vun drinne noh drusse“ noch überboten. Das erste Lied „Kristallnaach“ ist zwar eine Minute kürzer, dafür der Spannungsaufbau in Reinkultur. Wenn der Song ungefähr in der Mitte geradezu explodiert, gibt es kein Halten mehr in der Rockdisko. Aus den Gitarrenfiguren von Heuser, wird das singende Freundschaftsband Wolfgang Petry seinen späten Karrierehöhepunkt generieren. Spätestens ab dem Zeitpunkt befinden sich die Geschmackspolizisten im Dauer-Alarmzustand.
Mit den ersten zwei Alben für die EMI im Gepäck, sind BAP nun ab Donnerstag für vier Abende zurück an einer ihren früheren Wirkungsstätten. In den Sartory Sälen erfolgt der Startschuss für die „Zeitreise 81/82 Tour“, die im November 2024 beginnen, und mit zwei aufeinanderfolgenden Konzerten in der Lanxess-Arena enden wird.
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Foto: Tina Niedecken