Dem dritten Roman von Markus Berges kann man nur wünschen, dass ihm ein großer kommerzieller Erfolg bevorsteht. Denn nur so ist es wahrscheinlich, dass „Irre Wolken“ zeitnah verfilmt wird. Das Buch strotzt nur so vor Szenen, die man auf der großen Leinwand sehen will. Das Endbild von „Irre Wolken“ ist / wäre gar das schönste seit Mike Nichols‘ „The Graduate“.
Nach seinen beiden ersten Büchern „Ein langer Brief an September Nowak“ und „Die Köchin von Bob Dylan“, widmet sich Markus Berges in „Irre Wolken“ seiner persönlichen Adoleszenz; dem wahrscheinlich am häufigsten aufgegriffenen Thema von Musikern, die jetzt auch noch Bücher schreiben müssen. Berges ist nämlich obwohl man von allen – die es bis hier hin geschafft haben – ausgehen muss, dass sie es selbstredend wissen, ein nicht ganz unbedeutendes Mitglied, der außerhalb des Weihnachtsgeschäfts (NOCH) zu erfolglosen, aber unter Kennern, besten deutschen Musikgruppe, der Kölner Band ERDMÖBEL. Ich würde mich sogar auf die Aussage festnageln lassen, dass das Songwriting Duo Berges / Maas, wäre es nicht in Deutschland, sondern im englischsprachigen Raum aktiv, längst neben anderen genialischen Schreibpartnerschaften wie Grant / McLennan, John / Taupin, Becker / Fagen und Bacharach / David genannt werden würde. Das war jetzt vielleicht ein wenig viel Konjunktiv.
Und genau wie die erfolgreichsten seiner schreibenden Musikerkollegen, wie Lehmann und Strunk, verschafft Berges mit seinem neuen und bisher besten Buch, der eigenen (Bühnen-)Persönlichkeit, oder genau andersrum (?), oder etwa sogar gegenseitig (??), endlich die notwendige Tiefe und vor allem Seele, um jetzt die nächste Stufe seiner (und ERDMÖBELs !?) Karriere oder viel wichtiger seiner Selbstakzeptanz zu zünden. Ok, das war jetzt ein richtig bescheuerter Satz. Ich erkläre meinen Punkt mal etwas genauer.
Bisher blieben die Texte von ERDMÖBEL trotz der unisono gelobten Qualität, doch eher immer ein abstraktes Vergnügen. Bis zumindest zur letzten Platte und dem Song „Das Vakuum“. Die Reise, die Berges auf „Guten Morgen, Ragazzi“ mit diesem und weiteren sehr persönlichen Songs begonnen hat, wird in „Irre Wolken“ fortgesetzt. Davor hat er auf einem Dutzend Platten und mit zwei Romanen bewiesen, wie originell und gescheit er als Autor ist. Mit dem Track „Tutorial“ auf „Hinweise zum Gebrauch“ wurde diese Beweisführung bis zum Äußersten getrieben. Danach hätte es tatsächlich nur noch ein Album mit eingesungenen Gebrauchsanleitungen geben können. Man kann sich richtig gut vorstellen, wie sich Berges in einer Therapie (und dass es eine gab, kann man nach der Lektüre von „Irre Wolken“ nur hoffen) genau diese Entwicklungsstufe erarbeitet hat.
Den Grad an Aufrichtigkeit und Willen zur Schonungslosigkeit, hat man auch schon beim bereits erwähnten Strunk erlebt. Aber anders als Strunk, suhlt sich Berges’ Erzählung niemals in Geschmacklosigkeiten und Banalitäten. Wenn der vermeintlich unattraktive männliche Protagonist (bei Strunk mit Akne, bei Berges mit Adipositas) unter anderem beim postpubertären Masturbieren beschrieben wird, wird bei Strunk „abgemolken“. Bei Berges, da kommt bei ganz der ERDMÖBEL-Texter bei ihm durch, liest man von „gesetzlich vorgeschriebenen Verschattungen in Herrenmagazinen“.
Ein Nebeneffekt von „Irre Wolken“ ist übrigens, dass ältere ERDMÖBEL-Songs, wie zum Beispiel „Wette unter Models“ oder „Busfahrt“, durch das Buch in einem völlig neuen Licht erscheinen. Die Außenseiter-Stories der Songs, waren wohl doch keine komplett imaginierten Konstrukte.
Das Buch spielt (bis auf einen kurzen Prolog) im Westdeutschland der mittleren 1980er Jahre. Und ja, Berges erzählt in seinem Buch natürlich von der ersten (seiner) Liebe(n), und nimmt den Leser mit auf eine Reise ins Zentrum der bundesrepublikanischen Finsternis, zwischen Partykellerhölle mit Heiermann-Geburtstagsgeschenken, Männergesangsverein, Jägermeister, münsterländischen Karnevalsfeiern (und als wäre das noch nicht schlimm genug) mit Ententanz und vor allem auslaufenden Pädagogik- und Therapiekonzepten. Die Zeit nach dem Abitur, während eines sozialen Jahres in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Im Sommer von Tschernobyl und Elvis Costellos „Blood and Chocolate“.
Es gibt so viele gute Sätze und Formulierungen in dem Roman, wie wenn der kräftige Protagonist sich durch eine leichte Alkoholisierung dann doch „völlig fettvergessen“ traut zu tanzen. Die Konstruktion der Dramaturgie, der Bau der Szenen, ist manchmal nicht ganz rund ausgefallen. Die Hollandreise der ersten Band der Hauptfigur will man zwar UNBEDINGT verfilmt sehen, wirkt im Kontext des ganzen Romans jedoch etwas episodisch und in Bezug auf den Spannungsbogen nicht unbedingt zielführend; dafür aber um so erklärender für die Entwicklung der Hauptfigur. Bei einem autobiographischen Roman sollte das aber nicht als Mangel wahrgenommen werden. Die stärkste Qualität und Kraft die von Musik, Literatur, Film, von Kunst ausgehen kann, besitzt Berges‘ Buch „Irre Wolken“ definitiv: Es zieht einen ganz schön rein!
Verlag: Rowohlt Berlin
288 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0103-5