Die Geschichte Vicky Leandros‘ ohne die ihres Vaters Leo Leandros zu erzählen, wäre nicht richtig. Die deutsche Wikipedia-Seite behauptet er wäre 1926 als Leandros Papathanasiouim im westgriechischen Astakos geboren, während die englische Version ihn bereits als 100-jährigen ausgibt. Der deutschen Regenbogenpresse nach zu urteilen ist Leo Leandros aber tatsächlich im letzten Jahr einhundert Jahre alt geworden. Es wurde nämlich bei einigen auf Instagram aufgetauchten Snippets darüber spekuliert, weshalb die berühmte Tochter auf den Bildern nicht zu sehen war. Über das Geburtsjahr von Vicky Leandros ist man sich auf Wikipedia übrigens auch nicht einig.
Nach dem Ende des griechischen Bürgerkriegs avanciert Leo Leandros jedenfalls sehr schnell zu einem der bekanntesten griechischen Schlagersänger. Mitte der 1950er Jahre emigriert er nach Deutschland, um dort seine Musikerkarriere fortzusetzen. Die dreijährige Tochter Vasiliki bleibt erstmal bei den Großeltern in Griechenland. Einer seiner ersten Erfolge in Deutschland wird die deutsche Version eines jamaikanischen Volksliedes. Die amerikanische Version des „Banana Boat Songs“ in der Interpretation des Calypso-Sängers Harry Belafonte, dürfte wahrscheinlich eins der bekanntesten Stücke in der Geschichte der Popmusik sein. Und könnte bereits die Blaupause – zumindest das Intro – für den größten Hit der Tochter darstellen.
1958 folgt schließlich die vierjährige Vasiliki ihren Eltern nach Deutschland und wird von nun an nur noch Vicky genannt. Leo sitzt inzwischen, dank zahlreicher eigener Hits und erfolgreichen Arbeiten für Ulli Martin, Freddy Quinn und Julio Iglesias ziemlich fest im Sattel der deutschen Depandance der Plattenfirma Philips. 1965 erscheint dann – von Leo Leandros betreut und produziert – das Debütalbum „Songs und Folklore“ von Vicky Leandros auf Philips/Phonogram. Bereits die erste Singleauskopplung „Messer, Gabel, Schere, Licht“ wird ein großer Erfolg.
Aber auch die Coverversionen bekannter Folksongs, wie Dylans „Don’t Think Twice, It’s All Right“, bei ihr als französische Interpretation „N’y pense plus … tout est bien“, können bereits das große Talent der 13-jährigen Nachwuchssängerin bezeugen. Die ersten wirklich großen Karrierehöhepunkte dürften sicherlich die beiden Teilnahmen am Grand Prix Eurovision de la Chanson darstellen. 1967 erreicht sie gleich den vierten Platz. Im Jahr 1972 gewinnt sie ihn schließlich, erneut für Luxemburg, mit dem selbstredend vom Papa (unter Pseudonym) verfassten Lied „Après toi (Dann kamst du)“.
1974 kommt es dann zum vielleicht seltsamsten Hit der deutschen Popmusik. Leo Leandros schaut wahrscheinlich wie Millionen andere Deutsche und Österreicher die neue Serien-Adaption des Schelmenromans „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Dort wird in der sechsten Folge das alte Volkslied „Rosa, wir fahr’n nach Lodz“ von der Figur des Oberleutnants Lukasch gesungen. Einige Quellen verorten den Ursprung des Stücks bereits im 30jährigen Krieg, andere vermuten ein jiddisches Lied. Erstmals dokumentiert wird eine Version des Stücks während des ersten Weltkrieges. Den Texter dieser Version – Fritz Löhner-Beda – wird 1942 von den Deutschen in Auschwitz ermordet. Den Verantwortlichen bei der Plattenfirma ist das Vorhaben von Lea Leandros, daraus den nächsten Hit der Tochter zu generieren, jedenfalls nicht besonders geheuer. Der Text gefällt ihnen nicht und überhaupt dieses Intro. Aber Lea Leandros lässt sich nicht beirren. Anfang Mai 1974 wird die Nummer veröffentlicht. Mitte des Monats folgt ein TV-Auftritt. Und binnen 8 Wochen werden über 400.000 Einheiten verkauft. Eine Woche lang hält sich „Theo, wir fahr’n nach Lodz“ auf Platz 1 in den deutschen Single-Charts. Es wird die einzige Nummer 1 von Vicky Leandros bleiben.
Vicky Leandros, 1973
Das Meisterwerk von Vicky Leandros bleibt jedoch ein anderes Lied. Vor vier Jahren befragte der Berliner Radiosender radio1 des RBB im Rahmen seiner sommerlichen Top 100 Themenshows eine Jury nach ihren „100 peinlichsten Lieblingsliedern“. Die Ergebnisse fielen der Aufgabenstellung entsprechend erschütternd aus. Auf den ersten zehn Plätzen landeten ausnahmslos große Meisterwerke der Musikgeschichte. Dass diese von der prominent aus sogenannten Musikexperten besetzten Jury als „Guilty Pleasure“ geflaggt wurden, sagt mehr über Deutschland, als über die Qualität der gewählten Lieder aus. Weshalb Vicky Leandros nicht in einer Liste neben MUTTER oder den GOLDENEN ZITRONEN stehen kann, muss man mir erstmal erklären. Auf Platz drei landet jedenfalls die absolute Masterclass in Sachen Songwriting und Produktion. „Ich liebe das Leben“ wäre in einem Land wie Frankreich keine peinliche Angelegenheit, sondern ein Nationalheiligtum. Die erste Strophe wird noch ganz behutsam zu Klavierbegleitung vorgetragen; beim ersten Refrain erklingt ein Banjo. Zur der zweiten Strophe kommen dann Streicher hinzu. Den einsetzenden Basslauf verstärkt eine Tuba. Beim zweiten Refrain erklingt dann eine ziemlich überwältigende Bombast-Instrumentierung aus Bläsern, Streichern und Chor. Darauf folgt eine wirklich grandiose Bridge, die das Tempo nahezu auf Null runterfährt, bevor der Song in einem großen Finale mit der gesamten Instrumentierung explodiert. Wer beim RICHTIGEN ANHÖREN nichts empfindet, kann sich eigentlich direkt beerdigen lassen. Das von Leo Leandros produzierte Stück gehört neben „Ohne Dich (Schlaf‘ ich heut Nacht nicht ein) von der MÜNCHENER FREIHEIT, zu den einzigen deutschsprachigen Liedern in dieser ominösen RBB-Liste, die natürlich übersetzt die 100 beliebtesten Lieder (und nichts anderes) der Deutschen darstellen.
1983 setzt sich Leo Leandros zur Ruhe und kehrt schließlich in den 1990er Jahren nach Griechenland zurück. Seine Tochter kann mit deutschsprachigen Adaptionen ausländischer Hits und ein paar eigenen Stücken durchaus noch einige Erfolge einheimsen. Mit der Ultrakunst der 1970er Jahre hat das jedoch nicht mehr viel zu tun. Aber das kann man auch prinzipiell über den deutschen Schlager sagen.
Im November 2022 kündigt Vicky Leandros 13 Konzerte an. Es soll ihre Abschiedstournee werden. Das Unternehmen gerät zu einem riesigen Erfolg. Es folgen Zusatztermine. Und selbst ein Bühnensturz vor einigen Tagen in Hannover kann Vicky Leandros nicht aufhalten. Wenn man sich die Setlist der Tour anschaut, sollte man sich auf einen überwältigenden Abend einstellen. Neben den Hits gibt es auch Obskuritäten wie eine griechische Version von Grönemeyers „Männer“ im über 30 Songs umfassenden Set.
Tickets für das Konzert in Düsseldorf gibt es hier.