Als Ozan Ata Canani 1973 nach Deutschland kam, war er gerade einmal 11 Jahre alt. Sein Vater arbeitete als »Gastarbeiter« in der Schwerindustrie, der Sohn bekam zur Eingewöhnung eine Bağlama. Dieses traditionelle Instrument der anatolischen Musik brachte er sich selbst bei – und begann, auf Deutsch zu schreiben. Mit 13 Jahren verfasste er »Deutsche Freunde«, ein Lied über das Leben von Migrant:innen zwischen Schuften und Abwertung, zwischen Herkunft und Ankommen. Damit gehörte er zu den ersten, die in Deutschland Migrationserfahrungen in deutscher Sprache besangen.
Mitte der 1980er-Jahre verschwand Canani aus der Öffentlichkeit. Erst 2013 wurde er im Rahmen der Compilation Songs of Gastarbeiter wiederentdeckt, für die er »Deutsche Freunde« neu aufnahm. Acht Jahre später, 2021, erschien auf Fun In The Church sein erstes Album Warte mein Land, warte. Mit fast 60 Jahren begann für ihn damit eine zweite Karriere.
Nun legt er mit Die Demokratie nach. Das Album erschien am 20. Juni 2025 bei Fun In The Church. Wie schon beim Vorgänger spielt die Bağlama die Hauptrolle, diesmal eingebettet in ein breites Ensemble: die Kölner Band LOCAS IN LOVE, die Londoner Percussionistin Renu, der türkisch-bulgarische Darbuka-Spezialist Komba Coşkunel, die deutsch-türkische Sängerin Sinem im Chor und Bläser-Arrangements von Seeed-Posaunist Jerome Bugnon. Diese Mischung aus anatolischen Wurzeln, westlicher Rock- und Popästhetik und urbaner Club-Atmosphäre prägt den Sound.
Inhaltlich ist das Album kompromisslos politisch. Der Titelsong macht deutlich: Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie muss erkämpft werden, sie kostet etwas, und sie steht unter Druck – durch Rechtspopulismus, Nationalismus und religiösen Fanatismus. Canani benennt die AfD in Deutschland ebenso wie den autoritären Kurs des türkischen Präsidenten. Dass er dieses Thema nicht abstrakt behandelt, zeigt schon seine Biografie: Er selbst hat erlebt, wie schnell Menschen ausgegrenzt werden können.
Die erste Single „Freund/Dost“ knüpft direkt an die Vergangenheit an. Das Stück stammt aus dem Jahr 1979, und für die neue Version griff der Istanbuler DJ Bey auf eine alte Fernsehaufnahme zurück, extrahierte die Stimme des damals 18-jährigen Canani und mischte sie mit aktuellen Sounds. Das Ergebnis ist ein Dialog zwischen Generationen und Epochen – und ein Lied über Fremdheit, Heimatlosigkeit und die Suche nach Zugehörigkeit.
Andere Songs des Albums blicken noch weiter zurück. »Pir Sultan« widmet sich Pir Sultan Abdal, einem Dichter des 16. Jahrhunderts, der dem alevitischen Glauben angehörte – einer Glaubensrichtung, die bis heute in der Türkei diskriminiert wird. Das Lied erinnert an das Pogrom im Madımak-Hotel in Sivas 1993, als ein islamistischer Mob 35 Menschen bei lebendigem Leib verbrannte. Canani singt über die Opfer und nennt die Täter »eine Schande für die Menschheit«.
»Gel Gel« hingegen formuliert einen Appell: »Komm, mein Bruder, sei nicht nachtragend, lass uns Frieden schließen, du und ich.« Hier geht es um Versöhnung, um Verständigung »auf demokratischem Boden«.
Damit schlägt Cananis Werk den Bogen von der Gastarbeitergeneration der 1970er-Jahre über die alevitischen Traditionen bis in die politischen Konflikte von heute. Es ist Musik, die Biografie und Gegenwart, Türkei und Deutschland, Migrationserfahrung und universelle Botschaft verbindet.
Dass diese Botschaften aktuell sind, zeigen nicht zuletzt die Proteste vom Frühjahr 2025, als Millionen junger Menschen in der Türkei gegen die autoritäre Politik auf die Straße gingen. Für Canani sind diese Bewegungen Hoffnungssignale – auch für Europa.
Das Konzert im Bumann & Sohn ist also nicht nur die Präsentation eines neuen Albums. Es ist auch die Rückkehr eines Künstlers, der nach jahrzehntelanger Pause mit über 60 Jahren ein Spätwerk geschaffen hat, das zugleich historisch verwurzelt und politisch hochaktuell ist.
Foto: Nadine Heller







