Es gibt Bands, die nach einem Durchbruch sofort anfangen, ihr frisch erbautes Denkmal direkt wieder umzugestalten. Als erstes werden die Ecken und Kanten abgeschliffen. TURNSTILE gehören auch zu dieser Art von Künstlern. Nach ihrem Erfolgsalbum „Glow On“ wurde der Lärm in ihren Arbeiten deutlich reduziert. Dass sie jetzt mit „Never Enough“ in der Mitsubishi Electric Halle landen, verwundert wenig: Die neue Platte ist ihr bisher massenkompatibelstes Werk. Aber wo steht diese Band eigentlich, nachdem sie fast aus Versehen die größte Hardcore-Gruppe der Welt geworden ist?
TURNSTILE wirken seit „Glow On“ wie eine Band, die mit ihrem eigenen Wachstum Schritt halten muss, ohne sich darin komplett zu verlieren. Die Jahre nach dem Album waren ein Dauerschleudergang: Grammynominierungen, Late-Night-TV-Auftritte, BLINK-182-Support, Festivals, deren Besucher:innen vorher nicht wussten, dass sie einer Band mit Hardcore-Wurzeln zuhören. Der Übergang von Clubs zur Arena verlief so schnell, dass man das Gefühl hatte, TURNSTILE hätten dafür gar keinen Plan in der Tasche.
Ganz ehrlich, für mich persönlich sind die meisten Bands mit Hardcore-Background schon ein erstes Ausschusskriterium. Entweder hört man Hardcore, oder man hört halt Rockmusik oder Pop – aber diese ewige Übergangszone, in der Gruppen ihren ursprünglichen Stil verwässern, nennt man nicht „künstlerische Entwicklung“. Das nennt man Kapitalismusunterricht. Bands, die plötzlich weicher klingen, tun das nicht, weil sie spirituell gewachsen sind, sondern weil die Schnittmenge an potenziellen Ticketkäufer:innen sonst zu klein bleibt. TURNSTILE sind da keine Ausnahme. Und ja: Das funktioniert. Aber es ist halt hauptsächlich eine betriebswirtschaftliche Entscheidung.
Man merkt solchen Gruppen irgendwann an, dass sie sich dem Publikum anpassen, das auf einmal vor ihnen steht. Und genau an dieser Stelle wird der alte Satz von Phillip Boa, so plump er klingt, plötzlich die präziseste Beschreibung des ganzen Problems: Je mehr Fans man hat, desto mehr Idioten sind dabei. Meine These ist auch, dass bei wachsender Publikumszahl auch der Anteil an Idioten wächst. Es gibt aber auch Ausnahmen, bei denen der Idiotenanteil auch bei kleiner Followerzahl sehr hoch ist. Fragen Sie Patrick Wagner.
Und diese Idioten prägen irgendwann die Räume – und damit auch die Band. Eine Gruppe, die früher in 300er-Schuppen die Wände vibrieren ließ, steht dann plötzlich in einer Halle, in der jede zweite Person an den aufregendsten Stellen des Sets Bratwurst holen geht.
Das Absurde ist: Genau deshalb bin ich überhaupt bei diesem Konzert. Nicht wegen des Wachstums, nicht wegen der Hallengröße, nicht wegen den Bratwürsten (obwohl..), nicht wegen der Hardcore-Gläubigkeit, sondern wegen „Never Enough“. Weil diese Platte – ausgerechnet diese – ein verdammt gutes Popalbum ist. Nicht Pop als Verrat, sondern Pop als Entscheidung. Eine Entscheidung, die nicht jedem gefallen muss, mir aber völlig reicht.
„Never Enough“ ist tatsächlich das beste Album, das TURNSTILE komponieren und aufnehmen konnten, um damit zu einer Popband zu werden – und man kann es ihnen überhaupt nicht übelnehmen. Die Platte klingt, als hätte jemand den inneren Lautstärkeregler gefunden und endlich auf eine Position gedreht, die nicht mehr zwischen „Jugendzentrum in Maryland“ und „Werbespot für irgendeine Scheiße“ pendelt. Die Songs haben plötzlich Luft und Raum. Und vor allem sehr, sehr schöne Melodien.
Das hat viel mit Meg Mills zu tun, die früher als Tourgitarristin mitlief und inzwischen offizielles Mitglied ist. Wer genau hinhört, merkt, wie sehr diese Entscheidung das Klangbild verändert hat. Die Gitarrenlinien wirken weniger wie dekoratives Geflirre. Mills ist jemand, die genau weiß, wann man ein Fenster öffnet und wann man es laut zuknallt. TURNSTILE klingen nicht mehr wie eine Band, die alles gleichzeitig zeigen will, sondern wie eine Band, die begriffen hat, dass man Spannung ganz besonders durch Reduktion erzeugen kann.
Das dazugehörige Filmprojekt unterstreicht diese neue Klarheit noch einmal. Brendan Yates bezeichnet sich inzwischen als „Art Director“, was auf dem Papier nach Witz der Woche klingt, aber erstaunlich stimmig aufgeht. Die Bilder haben nichts von diesem müden Musikvideo-Ehrgeiz, bei dem ein paar Freunde mit Drohnen über Industrieruinen fliegen. Stattdessen bauen TURNSTILE eine Atmosphäre, die eher an Ausstellungskataloge erinnert: Jet-Ski im Dämmerlicht, Gitarren vor alpiner Kulisse, Schlagzeug im offenen Gelände. Alles wirkt fast absurd groß gedacht – aber tatsächlich überhaupt nicht großkotzig.
Man sieht, dass die Band inzwischen Zugriff auf Ressourcen hat, von denen sie früher nur träumen konnte, und dass sie diese Mittel nicht für Pyro und LED-Wände verbrät, sondern für Stimmungen. Für Räume. Für eine Bildsprache, die nicht aus dem Hardcore kommt, sondern aus Fotobänden, Architekturmagazinen, teuren Coffee-Table-Books.
Genau hier beginnt TURNSTILE, endlich wie eine Band zu wirken, die nicht dauernd beweisen muss, woher sie kommt. Dieses Bedürfnis, jede Geste rechtfertigen zu müssen, war in ihren frühen Jahren spürbar: der Versuch, gleichzeitig „authentisch“ zu bleiben und trotzdem nicht unterzugehen, wenn die Welt größer wird. Mit „Never Enough“ wirkt es, als hätten sie diese doppelte Pflicht abgelegt. Man hört und sieht eine Gruppe, die sich erlaubt, sich nicht mehr ständig rechtfertigen zu müssen.
Und das ist interessant, weil TURNSTILE gerade an einem Punkt stehen, an dem jede Fehlentscheidung wie ein Charakterfehler gelesen werden könnte. Werden sie wieder lauter, heißt es: Verrat am Pop. Werden sie leiser, heißt es: Verrat am Hardcore. „Never Enough“ navigiert genau dazwischen – nicht diplomatisch, sondern selbstbewusst. Als hätte jemand der Band erklärt, dass Ambiguität kein Verrat ist.
Die Wahrheit ist: Für TURNSTILE beginnt jetzt die unangenehme Phase. Die Phase, in der man nicht mehr nur den Aufstieg beobachtet, sondern die Entscheidungen, die in Höhenluft getroffen wurden. In den großen Hallen muss man Haltung zeigen — und man wird von jedem schlecht gelaunten Heini, wie mir, bewertet, der sich ein 50-Euro-Ticket leistet, weil irgendjemand auf TikTok erzählt hat, TURNSTILE seien „so krass“.
Man darf das nicht unterschätzen. Viele Bands reagieren auf solche Räume wie Menschen, die plötzlich im falschen Studiengang gelandet sind: Sie tun so, als gehöre ihnen der Laden, wirken aber wie Austauschstudenten, die die Hausordnung nicht gelesen haben.
Man muss sich nur anschauen, wie andere Bands an genau dieser Schwelle auseinandergefallen sind. THE STROKES zum Beispiel: Kaum hatten sie den Sprung auf die großen Open-Air-Festivals geschafft, wirkte Julian Casablancas, als hätte man ihn versehentlich dorthin teleportiert. Halb betrunken, halb gelangweilt, ganze Shows lang mit diesem Blick „Wer hat mich hierhin geschleppt?“. Adam Green (in Deutschland, haha) hat das Kunststück noch eleganter ruiniert: Auf seiner „Gemstones“-Tour, auf dem absoluten Höhepunkt seiner Karriere, stimmte er regelmäßig „Heal the World“ von Michael Jackson an – nicht ironisch, nicht als Konzept, sondern als toxisch verwackelten Privatgag. Er hielt es für brillant. Das Publikum nicht. Danach war seine Karriere de facto vorbei.
Und dann diese inzwischen nur noch unangenehme Band ARCADE FIRE: Eine Band, die jahrelang dafür gefeiert wurde, die größten Gefühle mit den einfachsten Mitteln zu erzeugen. Doch kaum waren sie so groß wie U2, wollten sie plötzlich U2 sein. „Everything Now“ war der Versuch, Stadiongröße mit ironischer Selbstentfremdung zu spielen – ein Konzept, das so aufgeblasen war, dass es nur scheitern konnte. Die Shows waren riesig, bunt, pompös – und komplett leer im Zentrum.
Dass man beim Aufstieg nicht völlig verblödet, ist ein kleines Wunder. TURNSTILE widersetzen sich (noch) mit „Never Enough“ genau diesem Prozess. Vielleicht ist es sogar das erste TURNSTILE-Album, das nicht versucht, jemanden mitzunehmen — sondern das einfach vorausgeht.
Ob diese Haltung live hält, wird man in Düsseldorf sehen. Dort entscheidet sich, ob TURNSTILE im Konzert weiterhin in der Lage sind, ihr Publikum zu führen, oder ob sie irgendwann anfangen müssen, ihm hinterherzulaufen. TURNSTILE haben sich bisher geweigert zu erklären, was sie tun. Das macht sie groß. Jetzt müssen sie zeigen, dass sie ihre Kunst auch in einer Halle beherrschen, in der normalerweise Künstler vor Kapitalismusopfern auftreten – Shows, bei denen nichts Unerwartetes passiert, außer dass vielleicht ein Überraschungsgast aus derselben Preisklasse auftaucht. TURNSTILE müssen dort bestehen — vor allem gegen ihr eigenes Wachstum.
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