Im letzten November spielte die vermeintliche Brassband BRASS AGAINST auf dem Welcome to Rockville Festival in Florida. Auf dem Höhepunkt ihrer Adaption des RAGE AGAINST THE MACHINE Klassikers „Wake up“, stellte sich eine der mitreisenden Sängerinnen der Gruppe – in dem Fall Sophia Urista – über einen sich rücklings auf der Bühne liegenden Fan und urinierte diesem circa eine halbe Minute lang, nachdem sie sich ihre Hose heruntergezogen hatte, über dessen Gesicht und in seinen Mund, während sie dabei „I think I heard a shot“ intonierte. Das Ganze geschah, zumindest für den Fan, freiwillig. Für das gesamte anwesende Publikum kann das mit Sicherheit ausgeschlossen werden.
Der Song von RATM thematisiert das Attentat auf den US-amerikanischen Baptistenpriester und Bürgerrechtler Reverend Martin Luther King, Jr. und die Rolle der COINTELPRO (Counterintelligence Program); einem geheimen Programm der US-Bundespolizei FBI, welches von 1956 bis 1971 bestand und bei dem später, nach Untersuchungsausschüssen im US-Senat, festgestellt wurde, dass es mit den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft unvereinbar wäre. Viele werfen der Band RATM vor, dass sie seit Jahrzehnten mit ihrem Protest-Geschäftsmodell, mit anderthalb guten Platten im Gepäck (insgesamt nur drei Alben in 30 Jahren), und wiederkehrenden Headliner-Auftritten bei ausgemachten Trottel:innenveranstaltungen wie Rock am Ring, einen unfassbaren Ausverkauf betreiben würde. Was man BRASS AGAINST nach dem Vorfall in Florida vorwerfen soll, wenn man das Ganze in Relation setzt, dürfte den Rahmen einer Konzertkritik und die Grenzen einer guten Kinderstube auf jeden Fall sprengen.
Jedenfalls spielt die New Yorker Kapelle, nach ihrem skandalfreien Supportingjob auf der aktuellen komplettbestuhlten (!) Tournee bei den Edelmetallern von TOOL, eine Soloshow im Kölner Bügerhaus Stollwerck. Das ruft anscheinend auch den WDR-Rockpalast auf den Plan, der die Show aufzeichnet. Zwischen dieser Show und der letzten (GRETA VAN FLEET – ebenfalls im Bürgerhaus Stollwerck), deren Aufzeichnung (durch die Musikexperten des westdeutschen und öffentlich-rechtlichen Fernsehens) der Autor dieser Zeilen Zeuge sein durfte, liegen vier Jahre und ungefähr 250 besuchte Konzerte. Dass die Redaktion des Rockpalastes sich für Pimmelmusik begeistert, muss also ein Zufall sein. Auf jeden Fall.
Sophia Urista ist nicht mit ins Stollwerck gekommen, dafür aber eine andere Sängerin der Band. Liza Colbys Bühnenoutfit setzt sich von der uniformen Bekleidung der restlichen (ausschließlich männlichen) Bandmitglieder deutlich ab. Die Herren der Schöpung sehen in ihren weißen Outfits so aus, wie man sich eine Nu-Metalband in den 1990er Jahren vorgestellt hat. Colby ist gekleidet wie eine (bestimmt selbstbestimmte) Straßen- oder Wohnwagen-Sexarbeiterin. Und bitte nicht falsch verstehen: Das ist alles völlig wertfrei und (bestimmt ganz) wunderbar. Aber das kann auch alles mehr oder weniger egal sein. Denn einige sind – wahrscheinlich sogar die meisten – außer (ACHTUNG THESE) der WDR-Rockpalast Redaktion (die vielleicht eher wegen dem Sexarbeiterinnen-Outfit angereist sind) – garantiert zu dem Konzert gekommen, um tatsächlich eine Brassband zu hören, die 1990er Jahre Volldioten- und Halbidiotenmusik einspielt. So wie der Autor dieser Zeilen, der 1990er Halb- und ganz besonders 1990er Vollidiotenmusik und ganz ganz besonders Brassbands liebt.
Leider wird für diese Zielgruppe der Abend nicht zum Konzerthöhepunkt des Jahres. Das liegt daran, dass man eigentlich keine Brassband hört, sondern eine Crossover-Band mit ein paar Bläsern, die in den Hintergrund gemischt sind. Dominiert wird der Livesound ganz klar von der Gitarre von Oberpimp, Verzeihung, dem offiziellen (Auskunft auf der bandeigenen Website) Bandleader Brad Hammonds. Das kann auch nicht auf ein vermeintlich unglückliches Mixing am Abend geschoben werden. Das ist auf jeden Fall so gewollt. Wer BRASS AGAINST für eine Brassband hält, denkt auch dass METALLICAs „S&M“ Platten, eine funktionierende Fusion von Rock und Klassik wären.
Es gibt in der Setlist auch einen Ausbruch aus der gesetzten Thematik. Vielleicht eine kurze Befreiung aus dem Korsett der breitbeinigen 90er Mucke. Der Versuch RADIOHEADS „The National Anthem“ zu covern, wird zum peinlichsten Konzertmoment der letzten Dekaden. Einer Schülerband hätte man angesichts der Darbietung des „Kid A“ Tracks geraten, es vielleicht doch lieber mit einem anderen Hobby zu versuchen. Das war wirklich nichts! Zero, Null! Aber das Gute ist: In zwei Jahren wird niemand mehr von BRASS AGAINST reden. Außer es wird wieder gestrullert. Der WDR steht bestimmt wieder parat.
Falls jemand ein echtes Brassband-Konzert erleben möchte: Die Kölner Band TNT spielt am 25.06. ihre nächste Show.