– Wann wird’s mal wieder richtig Sommer – (Rudi Carell)
Das war es schon wieder mit dem 39. Haldern Pop Festival. Kaum hat man seine Zelte am Tonstudio Keusgen aufgeschlagen, erwischt man sich dabei, wie man beseelt vom Wochenende, aber schon mit einem gewaltigen Post Haldern Blues in den Knochen, seine Klamotten in den Kofferraum wuchtet, seine Parzelle vom letzten Müll befreit, um dann zurück ins trubelige Alltagsleben zurückzukehren.
Was bleibt von diesem, wahrscheinlich auf Strecke, wärmsten Haldern aller Zeiten? Zunächst mal hat das Festival nahezu alles das gehalten, was treue Haldern Gänger sich nach der coronabedingten Abstinenz erhofft hatten. Und gerade dieses „nahezu alles“ macht es nicht einfacher, das Erlebte auf Papier zu bringen. Zu viele Eindrücke sind an den drei Tagen auf dem alten Reitplatz, im Spiegelzelt, im Niederrheinzelt, in der Kirche und im Ort auf einen eingeprasselt. Angefangen von der Erkenntnis beim Konzert von HUSTEN am frühen Donnerstag auf dem Marktplatz, dass eine der Hauptherausforderungen am Wochenende darin bestehen würde, eine gute Strategie zwischen Schatten, Band gucken und ausreichender Getränkeversorgung zu finden. Dementsprechend amüsant war eine der Beobachtungen des Wochenendes, dass der Platz vor der Hauptbühne bis zum direkten Anfang des jeweiligen Konzerts nahezu menschenleer blieb, da alle versuchten, zumindest in den Umbaupausen ein wenig vom raren Schatten zu erhaschen. Mit Einsetzen der ersten Takte füllte sich der „Moshpit“ dann aber zusehends, sodass trotz der großen Hitze jede Band in den Genuss eines gut gefüllten Reitplatzes kam.
Auf alle Auftritte einzugehen, die wir gesehen haben, würde den Rahmen des Nachberichts sprengen. Deshalb beschränken wir uns auf einige ausgewählte Konzerte, wobei auch der Kollege Küster (BK) zu einigen Auftritten seine hoch geschätzte Meinung zu Papier gebracht hat. Zunächst mal ist festzuhalten, dass das diesjährige Programm selbst für Halderner Verhältnisse sehr herausfordernd war. So war vor dem Festival durchaus zu vernehmen, dass dem ein oder anderen das Line Up doch etwas zu speziell war. Nichtsdestotrotz war das Festival mit ca. 6000 Leuten gut besucht, wenngleich – ungewohnt für Haldern – nicht ausverkauft.
Unser diesjähriges Festival wird eröffnet von Gisbert zu Knyphausen mit seiner Band HUSTEN auf dem Marktplatz. Den guten Gisbert kann man getrost als Haldern Veteranen bezeichnen. Entsprechend souverän spielt sich die Band durch ihr Programm, während die Zuschauer:innen erstmalig versuchen, eine gute Mischung aus Konzert und Schatten hinzubekommen.
Nach dem Konzert geht es zurück Richtung Festivalgelände. Die Vorfreude darauf, erstmalig nach drei Jahren wieder auf den alten Reitplatz und ins Spiegelzelt zu dürfen, ist förmlich greifbar. Eröffnet wird die Hauptbühne in diesem Jahr durch WU-LU, einem Londoner Crossover Projekt, dass während der Pandemie in einschlägigen Kreisen durchaus für Furore gesorgt hat. Die dreiköpfige Band legt einen guten Auftritt hin, wäre aber besser im Spiegelzelt aufgehoben gewesen.
In diesem Spiegelzelt werden wir im Anschluss Zeuge von einer der besten Shows am Donnerstag. GRACE CUMMINGS aus Melbourne, Australien raunt und faucht sich durch ihr äußerst intensives Set und hinterlässt allseits offene Münder.
Auf die auf Grace Cummings folgenden SPORTSTEAM aus London scheinen sich viele gefreut zu haben. Ist die Band doch eine der wenigen klassischen Alternative Bands am gesamten Wochenende. Entsprechend ausgelassen wird die Band um Sänger Alex Rice vom Publikum empfangen. Dieser lässt sich nicht lang bitten und dirigiert Band und Publikum durch eine schweißtreibende Dreiviertelstunde.
Während im Anschluss LONEY DEAR – von einigen liebevoll zum Haldern Maskottchen erklärt – mit Chor und Orchester eine ähnlich beeindruckende Show wie vor einigen Jahren in Kaltern spielt, ist es doch etwas schade, dass die Intimität des Auftritts ein wenig durch das doch sehr laute Trommelgewitter der auf der Hauptbühne spielenden SONS OF KEMET gestört wird.
Nach LONEY DEAR fordert die Hitze zum ersten, aber nicht letzten Mal am Wochenende ihren Tribut, sodass wir uns ausruhen, um für das Highlight des ersten Tages, den (Überraschungs-)Auftritt der Beatsteaks aus Berlin, fit zu sein. BEATSTEAKS und Haldern? Passt das? Nicht wenige stellten sich im Vorfeld diese Frage. Ist es doch gute Sitte, dass bei Live-Auftritten der Berliner das Festivalgelände
fachmännisch zerlegt wird. Und das Haldern Publikum ist für vieles bekannt, aber bestimmt nicht dafür, ein Festivalgelände auf links zu ziehen. Aber die BEATSTEAKS wären nicht die BEATSTEAKS, wenn sie es nicht innerhalb weniger Augenblicke schaffen würden, das Publikum auf ihre Seite zu ziehen, sodass
tatsächlich irgendwann der gesamte Reitplatz auf dem Boden sitzt, um beim Refrain von LET ME IN zu eskalieren, wie es das Haldern noch nie gesehen hat. Es ist beeindruckend, wie nonchalant Arnim Teutoborg-Weiß den Zeremonienmeister gibt und es schafft, aus dem doch manchmal etwas introvertiert wirkenden Haldern Publikum einen eskalierenden Riesen-Moshpit zu machen. Nach anderthalb Stunden und einem Queen Cover zum Schluss verlässt die Band unter tosendem Applaus die Bühne und unter den anwesenden Zuschauern ist man sich einig, dass die BEATSTEAKS und Haldern ganz hervorragend zusammenpassen.
Der Freitag startet ähnlich heiß wie der Donnerstag. Die Hauptbühne wird eröffnet von MID CITY aus Australien, die uns schon auf der Fröhling Tour vor einigen Wochen begeistern konnten. Ähnlich wie im Kölner Artheater im Mai braucht die Band einen Song, um ihre Nervosität abzulegen. Was danach kommt, ist unfassbar eingängiger Stadionrock im positivsten Sinne. Getragen
durch Sänger Joel D’Griff, der ein wenig wirkt wie der überdrehte Bruder von Killers Sänger Brandon Flowers, spielt die Band sich durch ein Set, das wirklich alle auf dem Reitplatz dazu bringt, ihre überhitzen Körper zu bewegen. Dabei ist es amüsant zu beobachten, was für einen Sonnenbrillenverschleiß D’Griff während des Auftritts hat. Es sollte mit dem vielbeschworenen Teufel zugehen, wenn wir von MID CITY in Zukunft nicht noch einiges hören werden.
Der erste Platz für die coolste Show am Wochenende geht, vielleicht etwas unter dem Radar, aber ein
deutig an die Brooklyner Band GUSTAF. Die repetitiven Bassfiguren von Tine Hill, der Habitus von Sängerin Lydia Gammel und das silberne Abendkleid von Co-Sängerin und Perkussionistin Tarra Thiessen sorgen für eine schräge Dance Party, die so wirkt, als wäre das Vice Magazine und nicht Haldern Pop der
Veranstalter. Dass wir das Konzert von ihnen im Kölner BLUE SHELL ausgelassen haben, ist jedenfalls unverzeihlich. Hoffentlich folgen im Herbst neue Clubshows. (BK)
Wenn wir schon von der coolsten Show des Wochenendes sprechen, dann dürfen wir auf keinen Fall die ausgelassenste Show verschweigen. Die italienische folk-irgendwas Band EXTRALISCIO spielen nach ihrem mittäglichen Auftritt auf dem Marktplatz noch ein weiteres Konzert im Niederrheinzelt auf dem Reitplatz. Sowohl Publikum als auch die Band sind in Bierlaune, sodass die Party im Zelt keine Grenzen kennt. Es wird lauthals mitgesungen, getanzt, gesprungen und sogar die ein oder andere Polonaise wurde gesichtet. Band und Publikum wollen nicht, dass dieses Konzert endet, sodass man der Band fast den Strom abdrehen muss, damit sie von der Bühne geht. Ein typischer Haldern-Moment!
Eine der stärksten Shows des gesamten Wochenendes liefern SQUID am späten und etwas kühleren Freitagabend im Spiegelzelt ab. In ihrer englischen Heimat durchaus bekannt, sollte sie zukünftig auch in unsren Gefilden von sich hören machen. Ihre unkonventionelle Art, den doch inzwischen an einigen Stellen verstaubten Post Punk auf eine neue Stufe zu heben, erfrischt und ihr unfassbar tightes Spiel, getragen von Schlagzeuger und Sänger Ollie Judge, weiß über die komplette Länge der Show zu beeindrucken. Da vergisst man sogar, die – trotz Abkühlung – tropischen Temperaturen im Spiegelzelt.
Der Auftritt der russischen Band SHORTPARIS, die nach ihrer ersten Spiegelzelt-Show im Jahr 2018 dieses Mal einen Headliner-Slot am Freitagabend auf der Hauptbühne bekommen haben, entwickelt sich zu einem ausgemachten Cringefest. Das liegt sicherlich nicht hauptsächlich am vorgetragenen Material, einer pathosgeladenen Melange aus Folkore, Electrobeats und 1980er Synthiesounds, sondern an der ausgetüftelten Choreografie der Performance. Die Körperbewegungen von Perkussionist Danila Kholodkov und Sänger Nikolai Komyagin fesseln die Zuschauer:innen für etwa die Hälfte der eingeräumten Spieldauer. Danach lassen das Interesse und die Belastbarkeit des Publikums deutlich nach. (BK)
Nach den ersten Tönen von „953“ aus dem 2019er Album „Schlagenheim“ kann man erstmal überhaupt nicht glauben, dass BLACK MIDI diese unfassbare Lautstärke und ein demonstrativ kompromissloses Klangbild auf Konzertlänge durchziehen wollen. Nach wenigen Minuten wird jedoch klar: Sie wollen! Es gibt wohl momentan keine andere Band, die dermaßen komplizierten Math-Rock – früher hätte man einfach Jazz Fusion geschrieben – in einer solch unglaublichen Präzision live aufführen. Dass das jeder mitbekommt, könnte aber auch das Hauptanliegen von BLACK MIDI sein. Als Referenzen kommen jedenfalls eher ähnliche Streber wie CAPTAIN BEEFHEART und FRANK ZAPPA, die musikalisch völlig anderes ausgerichtet waren, in den Sinn, als artverwandte Bands wie BATTLES oder die früheren SPEEDY WUNDERGROUND Labelmates und ebenfalls am Wochenende auftretenden SQUID und BLACK COUNTRY; NEW ROAD. (BK)
Trotz tropischer Hitze und früher Tageszeit ist der Auftritt am Samstagnachmittag im Spiegelzelt von ERDMÖBEL, die neben MUTTER nicht nur zu den besten, sondern auch bis heute zu den leider noch
nicht angemessen honorierten Musikgruppen Deutschlands gehören, ordentlich frequentiert. Der aktuelle Albumopener „Guten Morgen“ wird den meteorologischen Umständen angemessen als Dub-Reggae, mit entsprechenden Echo-Effekten aufgeführt. Nach 43 Minuten ist leider schon Schluss. Eine spätere
Tageszeit und längere Spieldauer für einen unbedingt notwendigen weiteren Auftritt der KÖLNER (ja genau, liebe Müsteraner:innen) wären wünschenswert. Die Band versteht es mit ihren Fähigkeiten wie keine zweite, sicherlich noch viele weitere Unbedarfte zu ihren Fans machen zu können. (BK)
Ein echter Höhepunkt ist am Festivalsamstag die Show von PARQUET COURTS auf der Hauptbühne. Hatten wir die New Yorker vorab doch eher im Bereich leicht funkiger Indie verortet, hauen sie dem Publikum bei gefühlten 40 Grad im Schatten eine astreine Mid 90er Schrammel-Indie Show um die Ohren. Da wir Kinder der 90er sind, könnten wir an dieser Stelle das „Referenzfass“ aufmachen. Machen wir aber nicht. Das würde dem Konzert einfach nicht gerecht werden. Gäbe es ein Konzert, das dazu taugt, das Haldern Festival zu beschreiben, das Konzert der PARQUET COURTS wäre ein heißer Anwärter.
Die letzte Show am Wochenende liefern die DOMINO RECORD Cash Cows von WET LEG ab. Die ist in etwa deckungsgleich mit ihrer Clubshow im Kölner JAKI vom letzten Mai, über die wir aus Gründen keinen Nachbericht verfasst haben. Und auch diesmal wollen wir allen Fans ihre Freude nicht verderben. (BK)
Welches Resümee kann man nach dem 39.Haldern Pop Festival ziehen? Zunächst mal, dass wir das 40. kaum abwarten können. Da kann es dann gern genauso sonnig, aber etwas kühler sein. Darüber hinaus hat uns tatsächlich der vergleichsweise „oldschoolige“ Aufbau des Geländes gefallen. Das Bezahlsystem per Grid App hat sich bewährt, auch wenn von einigen Besucher:innen Kritik bezüglich der Verwendung der persönlichen Daten zu vernehmen war. Das Publikum und die Helfer:innen haben in diesem Jahr wieder einmal eindrucksvoll bewiesen, warum das Haldern Pop Festival wohl das entspannteste und liebenswerteste Festival der hiesigen Festivallandschaft ist. An drei Tagen ausschließlich freundliche Helfe:innen zu Gesicht zu bekommen, ist keine Selbstverständlichkeit, aber sicherlich darin begründet, dass auch für die Helfer:innen das Haldern Pop Festival mehr ist, als irgendein Festival. Den gleichen Eindruck hatte man beim Publikum: schiere Freude, wieder auf dem alten Reitplatz zu sein. Bei dem ein oder anderen haben wir nach dem Erklingen der ersten Töne im Spiegelzelt sogar Tränen kullern sehen. Alles in allem hat uns das 39. Haldern Pop Festival, trotz des an einigen Stellen doch recht fordernden Line Ups, wieder einmal vollends überzeugt. Eine Sache noch: Hat irgendwer einen heißen Tipp, wie man diesen fürchterlichen Post Haldern Blues schneller loswird? Wir sehen uns alle im nächsten Jahr wieder. Deal?
Das 40. Haldern Pop Festival findet statt vom 3-5. August 2023 (letztes Ferienwochenende NRW).