Im Vorfeld des 40. Haldern Pop Festivals gab Festivalmacher Stefan Reichmann zu bedenken, dass in seiner Wahrnehmung das Thema Hitze – man erinnere sich an das 39. Haldern Pop Festival mit durchschnittlich 37 Grad – zu sehr im Fokus stand. Dass ihm und seiner Mannschaft das Wetter in der Form wie am Festivaldonnerstag auf die Füße fällt, hat aber wahrscheinlich selbst er nicht erwartet und vor allem wahrscheinlich nicht gebraucht. Was bereits andere Festivals ereilt hatte, zog leider am Lindendorf nicht vorbei. Die Rede ist vom Regen in all seinen Facetten.
Da im Vorfeld bereits klar war, dass das Wetter Kapriolen in Form von Unmengen an Regen schlagen würde, wurden seitens des Festivals die Kommunikationsanstrengungen massiv verstärkt. Es wurde an die Besucher*innen appelliert, dass es unter den zu erwartenden Bedingungen einer geschlossenen Mannschaftsleistung bedarf, um nach drei Festivaltagen einen Sieg einzufahren. Und was soll man sagen: Diesem Appell schienen sich wirklich alle an diesem Wochenende verschrieben zu haben. Angefangen bei der Organisation, die durch eine vorbildliche Kommunikation nahezu nichts unversucht ließ, die An- und Abreise vernünftig zu gestalten und die an allen Ecken und Enden gefühlt alles getan hat, damit das Festival nicht vollends im Schlamm versinkt. Die Besucher*innen, die eine bis fünf Portionen Extrageduld aufbrachten und untereinander wahnsinnig hilfsbereit waren. Die Dorfbewohner*innen schienen noch netter zu sein, als sie es eh schon immer waren. Und nicht zuletzt die auftretenden Künstler*innen, die bei einigen Konzerten – um im „Sportsprech“ zu bleiben – über ihre Leistungsgrenze hinausgingen.
So hörte man zum Ende des Festivals nicht selten den eigentlich typischen Haldern Satz: „Ich hätte nicht gedacht, so viele gute Bands zu sehen“.
Trotz des 40. Geburtstags ist das Festival auch in diesem Jahr seinem Stil treu geblieben und hat eher auf das schwierige Pferd als auf das „Höher-Schneller-Weiter“ gesetzt. Ein Line Up, auf das man sich einlassen, manche würde sogar sagen, dass man sich erarbeiten musste. Hat man dies getan, so wurde man mit einigen unvergesslichen Momenten belohnt.
So spielen COURTING aus Liverpool das Zelt mit einem wundervollen Set gespickt von Indie Perlen warm, bevor die GURRIERS mit ihrem etwas aggressiveren und druckvollerem Postpunk das warm gespielte Zelt in Kürze nahezu abreißen. Man wird gerade im Zelt den Eindruck nicht los, das Publikum ist ob der widrigen Wetterbedingungen noch euphorisierter als sonst. Die Aussage in unserem Vorbericht, der Moshpit sei nicht die Kernkompetenz des Haldern Publikums, müssen wir spätestens nach dieser Haldern Ausgabe zu den Akten legen.
Manchmal wundert man sich im Vorfeld, welche Band zu welcher Zeit auf welcher Bühne spielt. Dass PORRIDGE RADIO am frühen Freitagabend auf der Hauptbühne sowas von perfekt aufgehoben sind, wird nach nur wenigen Minuten des beeindruckenden Auftritts klar. Mit traumwandlerischer Sicherheit spielt die Band um Frontfrau Darga Margolin Hit auf Hit und sorgt so für einen der vielen Höhepunkte des Wochenendes. BEARS DEN im Anschluss sind in Haldern gute alte Bekannte und man merkt ihnen die Freude an, erneut auf der Hauptbühne des Festivals spielen zu dürfen. Sie erwähnen nicht nur einmal, dass es sich bei dem Haldern Pop um ihr Lieblingsfestival handelt und so haben sie auch keine Anlaufschwierigkeiten, das Publikum in kürzester Zeit um den Finger zu wickeln.
Viele waren im Vorfeld überrascht, dass DIE NERVEN nicht für die Hauptbühne, sondern für das Spiegelzelt gebucht wurden. Eine Entscheidung, die aber durchaus Sinn macht, ist die Intensität im Zelt doch nochmal eine deutlich höhere im Vergleich zur Mainstage. Und diese Intensität ist es dann auch, mit der die Band wie ein Orkan durch das Zelt fegt. Gerade die ersten Songs des Trios lassen kaum Luft zum Durchatmen. Im Vergleich zum Auftritt vor einigen Jahren wirkt die Band deutlich gereift. Dies spiegelt sich auch in der Kommunikation mit dem Publikum wider. Ein Auftritt, der unterstreicht, warum die Band momentan zu den wichtigsten Indie Vertretern des Landes gehört.
Den Abschluss auf der Hauptbühne am trockensten Festivaltag, dem Freitag, machen GLAQUE aus Belgien. Ein belgischer Act, bei dem die Grenzen zwischen elektronischer Musik und HipHop verschwimmen, als „Mainact“ auf der Hauptbühne. Dies hat bei dem ein oder anderen durchaus für Stirnrunzeln gesorgt. Für langjährige Haldern Besucher*innen stellen außergewöhnliche Acts, die an einem der drei Festivaltage die Hauptbühne abschließen, jedoch keine Überraschung dar. Erstens denkt man in Haldern nicht in „Mainact“-Kategorien und zweitens hat es inzwischen fast schon Tradition, dass weniger bekannte Nischenbands zu später Stunde auf der Hauptbühne auftreten. Man denke nur an KIASMOS, NILS FRAHM oder EXPLOSIONS IN THE SKY in der Vergangenheit. Uns erinnert der Auftritt ein wenig an eine frankophile Version von CASPER. Leider ist der Auftritt, typisch für HipHop, sehr wortlastig, was für nicht französisch sprechende Besucher*innen irgendwann dann doch etwas langatmig wird.
Der Festivalsamstag startet sonnig und mit einem der besten Auftritte des gesamten Wochenendes: FLOODLIGHTS in der Haldern Pop Bar. Schon im Vorfeld hoch gehandelt, übertreffen die Australier die Erwartungen der proppenvollen Bar im Handumdrehen. Das Publikum will die Band gar nicht mehr von der Bühne lassen und singt noch Minuten nach dem Konzert lautstark den Singalong zum Song „Painting of My Time“.
Irgendwann am frühen Nachmittag zieht es sich bedrohlich zu, so dass man sich beeilen muss, noch halbwegs trocken ins Spiegelzelt zu DYLAN CARTLIDGE zu kommen. Während draußen zum drölften Mal an diesem Wochenende die Welt untergeht, lässt der 28-jährige Brite im Zelt die Sonne aufgehen.
Irgendwo zwischen Funk, Indie und HipHop schafft es CARTLIDGE, dass man das selige Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht bekommt und selbst die verkalktesten Hüften in Wallung geraten. Nebst unfassbar guter Freestyle Einlage tanzt irgendwann das gesamte Zelt und der Band ist anzusehen, wie sehr sie diesen Moment genießt. Wie sehr dem Publikum der Auftritt gefallen hat, zeigt sich am frühen Abend an der neu gestalteten offenen Niederrheinbühne bei CARTLIDGE’s zweitem Auftritt. Schon lange vor Beginn füllt sich das halboffene Zelt und die Band spielt wohl den am besten besuchten Auftritt dieser Bühne des gesamten Wochenendes.
Nach dem Auftritt von DYLAN CARTLIDGE verbleibt ein Großteil des Publikums im Spiegelzelt, da es draußen weiterhin in Strömen regnet, und wird Zeuge eines sehr unterhaltsamen Soundchecks der Wiener Band BIPOLAR FEMININ. Sängerin Elena Ulrich fällt erst nach einiger Zeit auf, dass sie sich mit dem falschen Techniker unterhält, überspielt dies aber äußerst charmant.
An BIPOLAR FEMININ scheiden sich ein wenig die Geister. Nicht wenige schienen allein wegen des Bandnamens Vorurteile gegen die Österreicher*innen zu haben. Diese wurden mit „Kalaschnikow“, dem ersten Song des Auftritts, nicht wirklich weniger. Heißt es doch zum Ende des Songs recht eindringlich und redundant „Kalaschnikow, schieß mir in den Kopf!“. Vorurteilsfrei betrachtet, handelt es sich bei BIPOLAR FEMININ um eine Band mit einer ganz klaren Attitüde. Während es oft Bands gibt, bei denen diese Attitüde aufgesetzt wirkt, nimmt man den Österreicher*innen diese zu jedem Moment des Konzertes ab. Elena Ulrich trägt die bemerkenswerten Texte derart eindringlich vor, begleitet von einer Band, die von ihrer Tightness nicht selten an die Landsleute von Bilderbuch erinnert. Ein Konzert, in dessen Anschluss man sich sicher ist, von der Band in Zukunft noch zu hören.
Die Hauptbühne wird am Festivalsamstag von THE MYSTERINES aus Liverpool eröffnet. In unserem Vorbericht als „live, loud, dirty Rock’n’Roll“ angekündigt. Dieser Ankündigung macht die Band alle Ehre. Insgesamt drei Gitarrist*innen sorgen für richtig Druck. Immer wieder auffällig: Die Kombination aus Hauptbühne, Mittag und ordentlichem Rockbrett passt ganz hervorragend.
Diejenigen, die FAMOUS bereits in Kaltern gesehen haben, wussten, warum sie sich in die Schlange vor dem Spiegelzelt einreihen. Alle anderen waren gespannt wie der sprichwörtliche Flitzebogen, wie die Band um den extrovertierten Sänger Jack Merrett ihre wilde Mischung aus 90’s Indie und Postpunk auf die
Bretter des Spiegelzeltes bringen würden. Klingt die Band auf Platte gelegentlich ein wenig sperrig, so ist sie live einfach mitreißend.
Merrett läuft auf der Bühne hin und her wie ein Tiger, der auf seine Beute lauert, während die Band sich in einen Rausch spielt. Ein Konzert, bei dem man sich gewünscht hätte, es würde länger dauern. Auch die Band will kaum von der Bühne. Nach dem Ende des Konzertes kommt Merrett nochmal auf die Bühne, um sich bei den Festivalmacher*innen des Haldern Pop Festivals zu bedanken.
Der Höhepunkt auf der Hauptbühne ist für viele am Festivalsamstag GLEN HANSARD. Hansard, der sich vor seinem Gig – wie immer auf dem Haldern – sehr volksnah gibt und im gelben Ostfriesennerz über das Festivalgelände schlendert, zeigt dann auch, warum er für viele DEN Höhepunkt darstellt. Bei seinen vergangenen Auftritten in Haldern war der Ire mal balladesk, mal recht funky unterwegs. Bei seinem diesjährigen Auftritt scheint Hansard aber richtig Lust auf Krach zu haben. Zunächst scheinen viele vom 90’er Grunge Sound überrascht zu sein. Diese Überraschung weicht aber ganz schnell der Erkenntnis, dass Hansard auch dieses Genre ganz großartig beherrscht. Natürlich lässt er auch seine Balladen wie „Birds of Sorrow“ oder „Falling Slowly“ nicht aus. Für letztere holt er sich einen Bläser aus dem Dorf, eine junge Dame, die er auf dem Gelände kennengelernt hat und die irische Sängerin GRAINNE HUNT auf die Bühne. Alles wirkt etwas improvisiert, verleiht dem Ganzen aber einen ganz besonderen Charme. Auf der Bühne scheinen alle großen Spaß zu haben und auch das Publikum ist hin und weg. Zum Ende seines Konzertes steigert sich Glen Hansard förmlich in seine Songs hinein.
Der Höhepunkt ist sicherlich, als er wie ein Derwisch seine E-Gitarre bearbeitend auf einem kleinen Vorsprung der Bühne steht und wie ein kleines Kind zum Takt in einer großen Pfütze herumtrampelt. Was für ein Auftritt! Der Engländer würde sagen: „One for the books.“
Das 40. Haldern Pop Festival stand kurz vor Festivalbeginn unter keinem guten meteorologischen Stern. Den Aufruf, sich über eine geschlossene Mannschaftsleistung in das Festival reinzukämpfen, schienen alle Beteiligten internalisiert zu haben. So war jede*r Einzelne, der/die am Festival beteiligt war, dafür mitverantwortlich, dass der 40. Geburtstag ein ganz besonderer wurde.
Hätte man das beschissene Wetter zwingend gebraucht? Klare Antwort: NEIN! Wäre das 40. Haldern Pop Festival bei trockenen 21 Grad und Sonnenschein ähnlich legendär geworden? Klare Antwort: NEIN!
So wird man sich noch lange von dieser Ausgabe erzählen und wir können es kaum abwarten, mit unseren Nachbar*innen und allen Freund*innen und Bekanntschaften, die man jedes Jahr aufs Neue auf dem alten Reitplatz trifft, bei der 41. Ausgabe des Haldern Pop Festivals vom 08.08-10.08.2024 in schlammigen Erinnerungen zu schwelgen.