Die Tour nach der Album-Promotion-Tour gilt im Allgemeinen als die bessere. Die Band muss nicht mehr auf Teufel komm raus ihre neuen Stücke präsentieren und hat auf den Konzerten zuvor erkannt, welche Lieder bei den Fans eher nicht so gut ankamen. Um die Setlist wieder aufzufüllen, feiert der eine oder andere Klassiker aus alten Tagen sein überraschendes Comeback. Und vielleicht, ja ganz vielleicht, bietet die Band dem Publikum bereits das eine oder andere brandneue Stück und damit einen Einblick darauf, wohin die musikalische Reise in Zukunft gehen kann. Und die Zuschauer? Die sind sowieso viel entspannter auf der zweiten Tour, nachdem der Albumhype ein bisschen abgeflaut ist.
LIBERTATIA, Ja, Paniks bereits fünftes Album, erblickte im Januar das Licht der Musikwelt – und nicht nur jmc fand an der „tanzbaren, extrovertierten Leichtigkeit“ des neuen Werks Gefallen. Zum Heimspiel ließen die Wahlberliner einst das Lido aus allen Nähten platzen. Acht Monate später nun entern sie an einem der ersten echten Herbsttage das SO36 in Kreuzberg – das zwar nicht komplett ausverkauft melden kann, aber dennoch sehr gut gefüllt ist.
Zunächst aber betritt Justine Electra pünktlich um 21 Uhr die Bühne. Sie trägt eine befremdlich wirkende Maske und singt mit bluesiger Stimme über verstörende elektronische Klänge. Verstörend – aber irgendwie gut. Und es wird noch besser, nachdem die in Neukölln lebende Australierin ihre Maske ablegt und ihr aus einem kleinen Notebook erzeugtes Geplucker und ihre faszinierende Stimme wahlweise durch eine akustische Gitarre oder ein gelooptes Pianomotiv unterstützt. Bei ihrem kleinen Set mit überwiegend Nummern aus ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Zweitwerk GREEN DISCO erinnert Justine Electra bisweilen an Feist. Als Highlights seien an dieser Stelle das bereits acht Jahre alte „Fancy Robots“ sowie eine eigenwillige, aber nicht minder herzzerreißende Version des Bonnie-Prince-Billy-Klassikers „I See A Darkness“ genannt.
Eine halbe Stunde später legen dann Ja, Panik mit „Trouble“, einst der ersten Single des gefeierten 2011er-Albums DMD KIU LIDT, gleich einen Bilderbuchstart hin. Mehr ältere Stücke? Check – zumal das Quartett um Sänger Andreas Spechtl mit „Run From The Ones That Say I Love You“ und „Time Is On My Side“ noch im ersten Konzertdrittel zwei weitere Klassiker auffährt. Die Stimmung im SO36 ist daher von Beginn an ausgelassen, wenngleich Ja, Panik bislang so gar nicht mit dem Publikum kommunizieren und fortan dann doch vermehrt auf das groovig-tanzbare, scheinbar aus den Achtzigern entsprungene LIBERTATIA setzen. Das Badewannen-Titelstück wird natürlich Wort für Wort mitgesungen, ehe der erste richtige Gänsehaut-Moment ansteht: „Eigentlich wissen es alle“, sechsminütiges Herzstück auf dem neuen Album, wächst live zu einem fast doppelt so langen Monster an – inklusive opulentem Noise-Intro, unbändiger Spielfreude und extrovertiertem Gebrüll Spechtls.
Ja, Panik haben acht Monate nach dem LIBERTATIA-Release zwar noch keine neuen Stücke in petto, dafür aber werden zum Schlussspurt tatsächlich unverhofft Lieblinge herausgekramt, die Neuzugang Laura Landergott an Keyboard und zweiter Gitarre teilweise erstmals live spielt. Das angepunkte „Nevermore“ samt Mitgrölzeile (“Das wird bald alles uns gehören, ja, ja, das wird bald alles uns gehören“) sowie „Alles hin, hin, hin“ von THE ANGST THE MONEY gehören zwar noch zum Standard-Repertoire, doch mit den fantastischen Versionen von „Modern Life Is War“ und „The Golden Handshake“ hatte wohl kaum jemand im Publikum gerechnet. Der Song ist auch ein perfekter Schlusspunkt für ein großartiges Konzert. Eigentlich. Denn trotz angehender Beleuchtung im SO36 und Musik aus der Konserve sind die Fans noch nicht satt, klatschen und trampeln noch zehn Minuten weiter, ehe sich Ja, Panik tatsächlich noch einmal aus ihrer offenbar nahezu schalldichten Backstage-Kabine auf die Bühne zurück bequemen. Andreas Spechtl stellt sich sogleich ans Keyboard, und alle wissen, was jetzt kommen wird: Bei „The Evening Sun“ liegen sich plötzlich wildfremde Menschen in den Armen und singen inbrünstig mit.
Tatsächlich kann die Band ihr tolles Januar-Konzert aus dem Lido letztlich toppen.
Text und Fotos: Sascha Krokowski