Als seine Mutter mit Krebs im Endstadium – im angelsächsischen Sprachraum Stage 4 genannt – mit dem Tod ringt, steht Touché Amoré Sänger Jeremy Bolm mit seiner Band in Gainsville/Florida auf der Bühne. Bolm’s Mutter verliert an diesem Abend den Kampf gegen die tückische Krankheit und Bolm muss fortan mit dem Verlust, der Trauer und der Gewissheit umgehen, im Moment ihres Todes nicht an ihrer Seite gewesen zu sein.
Nach der Rückkehr nach Kalifornien regelt Bolm die Dinge, die in solch einer Situation zu regeln sind und nimmt sich eine Auszeit von Touché Amoré. Wer ihn kennt, weiß, dass eine Auszeit von der Musik für ihn kaum möglich ist. Vielmehr gehört er zu den Musikern, bei denen ein derart einschneidendes Erlebnis ein Katalysator für kreative Prozesse ist.
Selten wurde der Tod so eindringlich und emotional vertont wie auf Touché Amorés viertem Studioalbum STAGE 4. Man spürt förmlich die Zerrissenheit in den Songs. Textlich zieht es dem Hörer ob der Direktheit Bolms bei Songs wie „Rapture“, „Benediction“ oder „New Halloween“ den Boden unter den Füßen weg. Es gibt Alben, die sich mit dem Thema Tod beschäftigen, dieses jedoch in Metaphern und sprachlich sehr abstrahiert tun. STAGE 4 geht diesen Weg nicht. Es zeigt einem schonungslos auf, dass man den Tod nicht planen kann und dass es kein Rezept gibt, mit Trauer und Verlust klarzukommen. An Floskeln glaubt Bolm nicht, wie er dem Hörer im Song „Benediction“ unmissverständlich zu verstehen gibt:
People say that with time it gets easier.
But I just think that they are wrong.
Am eindrucksvollsten und gleichzeitig bedrückendsten schildert er sein Seelenleben in „New Halloween“, wenn er schreit:
I haven’t found that courage to listen to your last message to me.
Die Vorstellung, die letzte Nachricht seiner verstorbenen Mutter auf dem Handy bei sich zu tragen, aber nicht den Mut zu haben, sie anzuhören, ist herzzerreißend traurig und nachvollziehbar zugleich. So wirkt es auf den Hörer wie eine Befreiung, dass der Song „Skyscraper“ mit einem Mitschnitt genau dieser Nachricht endet. Ein Hoffnungsschimmer und ein Fingerzeig Bolms, das es – wie auch immer – irgendwie weitergehen muss.
Musikalisch klingen Touché Amoré verspielter und zugänglicher denn je. Wagte man sich auf vergangenen Alben kaum an melodiöse Parts, so steht bei Songs wie „Rapture“, oder „Softer Spoken“ – mal mehr, mal weniger vordergründig – die Melodie im Mittelpunkt. Die Band hat auf STAGE 4 erstmals den Mut, verstärkt redundante Parts zuzulassen, was den Songs ein wenig die Atemlosigkeit der „Zweiminüter“ auf den Vorgängeralben nimmt. Die textliche Zerrissenheit, gepaart mit der musikalischen Weiterentwicklung erreicht seinen Höhepunkt im Song „Skyscraper“, in dem Jeremy Bolm zusammen mit Julien Baker seiner Mutter und ihrer Lieblingsstadt New York ein letztes Denkmal setzt.
VÖ: 16.09.2016, Epitaph Records, http://toucheamore.com/
Ohr d’Oeuvre: New Halloween/ New Halloween/ Softer Spoken/ Benediction/ Skyscraper
Gesamteindruck: 9,0/10
Tracklist: Flowers And You/ New Halloween/ New Halloween / Benediction/ Eight Seconds / Palm Dreams/ Softer Spoken/ Posing Holy / Water Damage/ Skyscraper/ Gather
Hotel Schneider – Zurück in den Ring
Zwischen John Rambo, der ewig blutenden Nase und dem letzten Hüftschwung wird klar, dass Dennis Schneider ein Kind der 1980er ist. Schneider – früher Gitarrist und Songwriter von Muff Potter – steigt mit seiner neuen Band Hotel Schneider ZURÜCK IN DEN RING. Statt Punk regiert der „Angry Soul“ (Eigenaussage Schneider), geht Schneider in den Nahkampf mit Survivor, Springsteen, den Temptations und Thees Uhlmann.
Zu erwarten ist, daß er viel Prügel einstecken wird für das Album. Zu weit hat er sich aus der Komfortzone gelehnt, zu viele Menschen haben immer noch Tränen in den Augen wegen dem Ende von Muff Potter. Hotel Schneider wird all jene enttäuschen, die auf einen aufgewärmten Muff Potter Aufguss gehofft hatten. Stattdessen knüppeln Hotel Schneider auf das eigene Denkmal ab dem ersten Song „Das Ende“ mit dem Soul – und 80ties – Hammer ein. Weiter geht es mit lupenreiner Popmusik, getragen vom Klavier, vom Upbeat, vom Soul und immer wieder diesem mehrstimmigen Gesang, der wirkt als wollten größenwahnsinnige Punk-Kids einen auf Motown machen. Eine mutige Mischung, was bei Jemandem wie Schneider, der sich mit seiner alten Band einen gottgleichen Status in der deutschen Punkszene erarbeitet hat, ziemlich nach hinten losgehen kann. Warum die Platte trotzdem funktioniert? Weil musikalisch zwar alles auf „reset“ gestellt wird, textlich und inhaltlich aber sofort der Straßenköter bellt. Schneider bedient sich einer einfachen und direkten Sprache, die meist in hymnischen, mehrstimmigen Refrains endet und Songs wie „Wenn alles vor die Hunde geht“ und „War das schon alles?“ hervorbringt, die einen nicht mehr los lassen. Songs, die dieses „Wir gegen alle“-Feeling haben, dies aber eher mit einem Hüftschwung, denn dem Mittelfinger ausdrücken. Da laufen dann halt nicht Muff Potter durchs Bild, sondern man denkt eher an Survivor und „Eye of the Tiger“. Schneider scheint mit Dauer der Platte immer mehr Lust und Spaß daran zu haben, neue Wege zu gehen, Klischees auszuloten und übertreibt es leider manchmal. Es sind so Uhlmann-Momente wie in „Transformer“ oder in „Das schönste Verderben“, die ein wenig zu pathetisch, zu anbiedernd wirken und deshalb nerven. Insgesamt gelingt Schneider auf ZURÜCK IN DEN RING ein mutiges und tanzbares Statement, womit er sich frei schwimmt ohne seine Wurzeln zu vergessen.
VÖ: 09.09.2016, chateau lala, http://www.hotel-schneider-band.de
Ohr d’Oeuvre: Wenn alles vor die Hunde geht/ Das Ende / War das schon alles?
Gesamteindruck: 7,0/10
Tracklist: Das Ende/ Ich geh zurück in die Wildnis/ Wenn alles vor die Hunde geht/ Transformer/ Wir beide brauchen Ärger/ War das schon alles?/ Das schönste Verderben/ Die Wahrheit war mir immer schon egal/ Wann schlaf ich wieder ein?
Departures – Death Touches Us, From The Moment We Begin To Love
Freunde verzweifelter, lauter, wütender Melancholie mit einem Quäntchen Hoffnung, finden auf DEATH TOUCHES US, FROM THE MOMENT WE BEGIN TO LOVE genau das, wonach sie gesucht haben. Vergleichbares gab es in diesem Jahr nur noch von der Kölner Band Anorak.
Mit ihrem dritten Album nach vier Jahren Wartezeit, zu der die Jungs aus Glasgow selber sagen: „Wir hatten keinen Druck!“, setzten Departures Ende Juli einen Meilenstein des Post Hardcore-Screamo-Whatever. Sind die fünf Jungs bisher knapp unter dem Radar geflogen, machen Departures mit ihrer neuen Platte, und der diesen Oktober anstehenden kleinen Europa-Tour, einen deutlichen Schritt aus dem Schatten anderer Vertreter des Genres heraus.
Knapp 31 Minuten dauert das Spektakel, aber die haben es wirklich in sich. Die Band schafft durch die emotional aufgeladene und ausgetüfftelte Instrumentierung aus präzisen Drumarragements, einem tragend-treibenden Bass und grandiosen Gitarrenwänden zwischen Indie-Wave und Hardcore, in Kombination mit den wütenden, teils geschrienen, teils gesprochenen Lyrics von Sänger James McKean eine Dichte, von der andere Bands nur träumen können. DEATH TOUCHES US, FROM THE MOMENT WE BEGIN TO LOVE ist zwar ohne Druck entstanden, kommt dafür aber um so druckvoller rüber und entlässt den Hörer mit dem monumentalen „Memorial“ zurück in die Realität. Mit jedem Hören wird man tiefer hineingezogen in den Strudel aus Wut, Verzweiflung und Trauer, um zum Schluss doch wieder versöhnt zu werden. There is a light and it guides us through – All the heartache that life decides to throw at you – Now I can sing our songs – So much louder than before.
VÖ: 29.07.2016, No Sleep Records, https://www.facebook.com/departuresuk/?fref=ts
Ohr d’Oeuvre: In Colour/ Set Adrift/ Memorial
Gesamteindruck: 8,0 /10,0
Tracklist: Sleepless/ The Last Dance/ In Colour/ Waiting/ Broken/ Set Adrift/ Death of Youth/ Lost/ 1994/ Memorial
East Cameron Folkcore – Better Off
Mit BETTER OFF veröffentlicht die East Cameron Folkcore Band in diesem September ihr 6. Album. Die Texaner aus Austin haben in den letzten Jahren einen sehr eigenen Stil aus dem Markt der musikalischen Möglichkeiten kreiert – Folk meets Pop meets Punk meets Soul meets Blues. Wird mit dem 2016er Album dieser eingeschlagene Weg weiterverfolgt?
Die Antwort ist positiv und BETTER OFF, um es vorweg zu nehmen, kann sich hören lassen. Die Band vermischt die Musikrichtungen zu dem unvergleichlichen Folkcore-Sound, mit dem sie sich seit der ersten Platte ihre ganz eigene Nische geschaffen hat und immer mehr Menschen begeistern konnte. Die Vielschichtigkeit ist auch auf BETTER OFF eindrucksvoll, so wird der musikalische Spannungsbogen von poppig – eingängigen Songs zum mitwippen und summen wie „Who do you think we are“ über blueslastige Stücke wie „Einstein´s Nightmare“ bis zu dem sehr soulig bläserorientiertem „Born to die“ geschlagen.
Somit führt das neue Album den eingeschlagenen Weg fort und stellt sich zugleich als nächster, musikalischer Entwicklungsschritt dar. Die klassischen Instrumente der Indie-Bands – Gitarre, Bass und Schlagzeug – bilden das Fundament für die vollends energetischen Songs, welches in den 10 Stücken immer wieder um Bläser, Streicher und Piano ergänzt wird, um als Ergebnis den bekannt, eigenen Folkcore-Stil zu präsentieren.
Besondere Aufmerksamkeit sollte dem Intro des herrlich pathetisch-hymnischen „Dreams Deffered“ zugestanden werden, welches drauf hinweist, dass Tom Waits Patenonkel für die meisten Songs war. Ein Verdacht, der sich in fast jedem Song wiederholt. Als andere Lieblingsstücke sind „Better off“, was die punkig-folkige Grundausrichtung der Songs vorgibt, und „TCB“ – ein großartig emotionales Stück – zu nennen.
Das Album lässt die Vorfreude auf die Deutschlandtour im Herbst steigen. Live wusste die Band immer zu überzeugen und das Publikum in den Bann zu ziehen. Der Abend ließe sich schlechter gestalten….
VÖ: 16.09.2016, Grand Hotel van Cleef, http://www.eastcameronfolkcore.com
Ohr d’Oeuvre: Better Off/ Dreams Deferred/ TCB
Gesamteindruck: 7,0 /10,0
Tracklist: Better Off/ Who Do We Think We/ Daring What Went Wrong/ Einstein´s Nightmare/ Dreams Deferred/ TCB/ Wilderness War/ Born To Die