Clueso – Neuanfang
Ein NEUANFANG bedeutet meist einen veränderten Ansatz auf altbekanntem Terrain, in der Hoffnung aus Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben. So geschehen etwa auch auf Cluesos Album Nummer Sieben?
Ein absolutes No-Go im Journalismus ist es, in der Ich-Form zu schreiben. Außer im Gonzo-Journalismus. Daher beschäftigt sich diese Rezension auch nicht mit der Rückkehr des Autors an seine alte Schreibwirkstätte bei JMC, sondern einzig und allein mit dem Erfurter Rapper und Popmusiker Clueso, dessen neuer Albumtitel durchaus programmatisch dafür gewesen wäre. Denn besagter Musiker drückte vor den Aufnahmen zu Album Sieben den Reset-Knopf. Weiter eingehen auf die viel zitierten Zeilen aus dem Titeltrack und die promotechnisch breit ausgewälzte Art der Veränderungen können allerdings die anderen RezensentInnen. Lieber zurück zur Musik. Bereits nach der Erklärung für die einschneidenden Maßnahmen („Neuanfang“) bittet Thomas Hübner im zweiten Lied „Achterbahn“ darum weiterhin ohne Plan fahren zu dürfen. Allerdings wirkt das Album nicht besonders planlos, sondern durchdacht und strukturiert, wie man es vom Künstler nicht erst seit SO SEHR DABEI kennt. Auffallend ist, dass Clueso sein Markenzeichen der jüngeren Zeit – nachdenkliche, leicht melancholische Texte in ein poppiges Gewand zu kleiden – mit Elementen aus seinen künstlerischen Anfangstagen – z.B. Rapparts in „Achterbahn“ wie einst bei GUTE MUSIK – verknüpft und sich so musikalisch breiter aufstellt. Auch die beiden Gastsängerinnen Kat Frankie und Sara Hartman passen da gut ins Bild. Insgesamt bleibt aber festzustellen, dass der thematisierte Neuanfang vielleicht für den Künstler eine einschneidende Erfahrung war und er nicht zuletzt mit Liedern wie „Gordo“ gegen Druck und Anforderungen von Außen anzusingen versucht. Für den Zuhörer nimmt sich der Umbruch jedoch als alter Wein in neuen Schläuchen aus. Und das bedeutet bei Clueso in keinem Fall etwas Schlechtes.
VÖ: 14. Oktober 2016, Vertigo Berlin, Universal Music, http://www.clueso.de/neuanfang/
Ohr d’Oeuvre: Achterbahn / Jeder lebt für sich allein
Gesamteindruck: 9,0/10
Tracklist: Neuanfang / Achterbahn / Neue Luft / Erinnerungen / Wenn Du liebst feat. Kat Frankie / Lass sie reden / Anderssein feat. Sara Hartman / Gordo / Jeder lebt für sich allein / Sorgenfrei
Balance and Composure – Light we made
Der Herbst, der Herbst, der Herbst ist da. LIGHT WE MADE passt da wie Arsch auf Eimer, nicht nur wegen des Albumtitels. Auch der neue Sound von Balance and Composure vermag mit zuckersüßer Melancholie zu quälen. Der Sommer ist jetzt endgültig vorbei.
Für einen kurzen Moment könnte der Gedanke kommen, ob das wirklich die richtige Platte in der Hülle war. Es ist nicht selten, dass sich Bands im Laufe ihres Bestehens umorientieren oder gänzlich neu erfinden. Nach ihren ersten beiden Alben SEPARATION (2011) und THE THINGS WE THINK WE´RE MISSING (2013) vollziehen Balance and Composure diesen Schritt auf ihrem dritten Longplayer LIGHT WE MADE sehr deutlich. Weg vom Post-Hard-Core, hin zu einem Emo-Pop-Sound mit starken 90iger Wave Anteilen. Am schwersten wiegt bei dieser Wandlung die Verwendung von Drumcomputern, der Einsatz von allerlei Keyboardsounds und der sehr gereifte, viel nüchternere Gesang von Jon Simmons. Einflüsse von The Cure, Radiohead und in „Aftermath“ gar von The Smiths, sind hörbar. Gleich im Opener „Midnight Zone“ offenbart sich die Erneuerung. Der Song wird mit viel Hall auf den Vocals, flächigen Gitarren-Riffs, groovenden Bassläufe und mit TripHop-Anleihen gespickten Drumbeats vorgetragen. Es folgen mit „Spinning“, dem erwähnten „Aftermath“ und „For a Walk“ weitere Songs die diesen „Nineties“ – Stempel tragen. Insgesamt sind die fünf Jungs aus Doylestown (Pennsylvania), experimentierfreudiger in Bezug auf ihren Sound. An der ein oder anderen Stelle wirkt das alles aber leider etwas überproduziert, insgesamt hört sich LIGHT WE MADE zu gleichförmig an und lässt die Abwechslung im Songwriting vermissen. Die Platte bleibt trotzdem ein Balance and Composure – Album, dank der noch vorhandenen bandtypischen Melancholie in Verbindung mit den immer wieder aufblitzenden Wurzeln im Alternativ-Indie Rock. So ist es auch wie geschaffen für die hereingebrochene Herbstzeit.
VÖ: 7. Oktober 2016, Big Scary Monsters, http://lightwemade.com/
Ohr d’Oeuvre: Postcard/ For a walk/ Loam
Gesamteindruck: 6,5/10
Tracklist: Midnight Zone/ Spinning/ Afterparty/ For a Walk/ Mediocre Love/ Postcard/ Call It Losing Touch/ Fame/ Is It So Much To Adore?/ Loam
Jaques Palminger & das 440 Hz Trio – Spanky und seine Freunde
Diese großartig – erstaunliche Platte ist der exzellente Start in den Winter, wenn es draußen kalt und dunkel wird. Jaques Palminger & das 440 Hz Trio erfreuen auf „Spanky und seine Freunde“ mit einem vehementen Gegenentwurf zu grauer Matschmusik und langweiligen Standardtexten.
Palminger spricht und singt mit sanfter Stimme von Peter Pan, vom Alltag und von der Ewigkeit. Die Geschichten kommen ohne doppelten Boden und ohne versteckte Tiefschläge aus. Dunkle Ecken werden stets ausgeleuchtet und jeder noch so missliche Zustand findet ein tröstliches Ende. Das alles formuliert er wieder mit anbetungswürdiger Stilsicherheit in Sätzen, die die Platte jeglichem Kitsch-Verdachts entheben. Sicherlich, das Cover ist nicht ohne Grund ein Traum in neonpink-apricot….und ja die Mundharmonika: Isn´t she lovely? Doch keine Angst, Palminger ist ein viel zu virtuoser Sprachkünstler, um in die Banalitätsfalle zu tappen. Das gilt auch für die musikalische Gestaltung. Das 440 Hz Trio musiziert anspruchsvoll, ohne zu überfordern. Klingt so wie man sich das Gemeinschaftsprojekt von St. Etienne, Liga der gewöhnlichen Gentlemen, Andreas Dorau und Chilly Gonzales vorstellen darf. Hier sitzen jedes Wort und jede Note. Auf Spanky und seine Freunde ist jederzeit Verlass.
VÖ: 7. Oktober 2016, Staatsakt, https://www.facebook.com/Jacques-Palminger
Ohr d’Oeuvre: Spanky/ Der Pinguin, das Handy und der Jazz/ Ewigkeit
Gesamteindruck: 7/10
Tracklist: Die Kirschblütenrakete/ Spanky/ Der Sprung/ Michael/ Ganz normales Leben/ Ragazzina/ Der Pinguin, das Handy und der Jazz/ Lache und die Welt lacht mir dir/ Jazzgesichter/ Ewigkeit
Kate Tempest – Let Them Eat Chaos
Durch ihre musikalischen und lyrischen Arbeiten sowie eine Romanveröffentlichung hatte Kate Tempest in den letzten Jahren ihren festen Platz in den Feuilletons der relevanten Printmedien sicher. Deshalb stellt sich die Frage, ob ihr Zweitling LET THEM EAT CHAOS, die damit verbundenen hohen Hürden überspringen kann oder stattdessen erste Abnutzungserscheinungen aufzeigen würde?
Kate Tempest bleibt weiterhin eine großartige Geschichtenerzählerin, deren Protagonisten in London die meiste Zeit leben und manchmal einfach nur vegetieren. Sie liegen wach in der Nacht und sorgen sich um die Zukunft. Tempest schafft es nur durch den Einsatz ihrer Stimme, der Phonetik und der „Spoken-Word“ – Form eine Wucht in die Texte zu legen, welche die Zweifel und Ängste förmlich greifbar macht. Lediglich ergänzend nutzt sie Beats und elektronische Elemente, um die Atmosphäre zu verstärken. Die musikalischen Fragmente setzt sie collagenartig zusammen und schafft somit eine harmonische Einheit mit ihren Texten. Das homogene Album lässt sich sehr gut durchhören. Einige Stücke stechen nach mehrmaligem Abspielen jedoch hervor. Mit „Lionmouth Door Knocker“ wird der musikalische und inhaltliche Rahmen des Albums aufgezeigt, so wird der Hörer erstmals mit den Zweifeln der Protagonisten konfrontiert. Das schon 2015 veröffentlichte „Europe Is Lost“ prophezeit schon damals, was kein Jahr später im Brexit dramatische Realität geworden ist. In „Grubby“ skizziert sie die Sehnsucht nach tragfähigen, zwischenmenschlichen Beziehungen der Twenty-Somethings. Mit dem Album legt sie nach dem Debut den Grundstein für zukünftige Arbeiten. Es scheint, dass Tempest die Populärkultur weiterhin als kritische Zeitzeugin mit messerscharfen Analysen begleitet. Vorfreude auf die nächsten Veröffentlichungen kommt durch LET THEM EAT CHAOS auf.
VÖ: 07.Oktober 2016, Fiction, https://www.katetempest.co.uk/
Ohr d’Oeuvre: Lionmouth Door Knocker/ Europe Is Lost/ Grubby
Gesamteindruck: 7,5/10
Tracklist: Picture a Vacum/ Lionmouth Door Knocker/ Ketamine for breakfast/ Europe is Lost/ We die/ Whoops/ Brews/ Don+t fall in/ Pictures on a screen/ Perfect Coffee/ Grubby/Breaks/ Tunnel Vision