Mittekill – Die montierte Gesellschaft
Es ist November 2016, die Welt scheint aus den Fugen, es brodelt an allen Ecken, Idioten bestimmen über die Zukunft und täglich fliehen Menschen in vermeintlich sichere Länder, in denen sie wiederum von Teilen der Bevölkerung nicht willkommen geheißen werden. Wie die Faust aufs Auge bringt Mittekill, der Elektro-Disco-Indie-Pop-„(F)N(r)ee(ak)rd“ aus Berlin, in diesen Tagen sein viertes Album DIE MONTIERTE GESELLSCHAFT raus.
Schon beim ersten Abspielen wird klar, diese Scheibe ist anders, ganz anders, als vieles was hier allwöchentlich besprochen wird. Diese Scheibe ist ein fettes Statement. Sie ist die wohl klügste und deutlichste musikalische Stellungnahme zu den vielen Ressentiments und Ängsten in unserer Gesellschaft gegenüber dem, was fremd scheint. DIE MONTIERTE GESELLSCHAFT ist nicht einfach nur Albumtitel, SIE ist Konzept, SIE ist Betrachtung, SIE ist eine Idee, SIE ist ein Angebot. SIE lädt ein zur Partizipation, zum nachträglichen Teilnehmen, an dem was Friedrich Greiling und seine vielen, aus allen Teilen der Gesellschaft stammenden Mitmusiker auf dieser Platte schon „montiert“ haben. Musikalisch geklammert vom minimalistischen Synthi-Pop in Kombination mit den Schlagzeug- und Elektrobeats und dem immer wiederkehrenden Piano, bleibt dazwischen viel Raum für die unterschiedlichsten musikalischen Prägungen – diese aufzuzählen wäre sinnfrei. Die Platte ist so vielschichtig, wie eben: „Die Gesellschaft“. Inhaltlich wird sie zusammengehalten vom Thema Flucht, den Flüchtlingen und dem Umgang mit den Konsequenzen im Positiven, wie im Negativen. Die Songs sind Puzzlestücke aus den verschiedensten Eindrücken der Arbeit mit Theatern und Flüchtlingsschulen, es sind direkte Einflüsse aus dem unmittelbaren Kontakt mit Fliehenden und dem täglichen Erleben von Ignoranz und Angst. Direkter, ehrlicher und einfühlsamer geht es nicht, wenn man „Begegnen“, wenn man „Montieren“ will. Ein einzelnes Stück hervorzuheben geht gar nicht. Zu individuell, zu schön ist jedes von ihnen. Zusammenmontiert ergeben sie ein Bild. Ein mal anklagendes, mal beschreibendes, trotzdem hoffnungsvolles, mit viel Humor gespicktes Stimmungsbild, wie Gesellschaft geht oder gehen könnte. Mittekill gehen im Dezember auf grosse Montagetour durch die Gesellschaft und eine Teilnahme ist obligatorisch.
VÖ: 25. November 2016, Weltgast/Soulfood, http://www.mittekill.de
Ohr d’Oeuvre: Song for the Warld/ Herbsttag (feat. Heim und Flucht Orchester)/ Spielzeugland (feat. Cielo Faccio Orkestar, Heim und Flucht Orchester & Mittekill Herrenchor)/ 4000km (feat. Dana Dumann & Heim und Flucht Orchester)/ Phantom der deutschen Opfer/ ABC/ Römerhofschule (feat. Mohamed, Seif & Milad)/ Otok/ Antiwachs/ Druckwellensittiche (feat. Pastor Leumund)/ Personal Manager/ Er soll sich nicht rumschieben lassen/ Yusef (feat. Yusef)
Gesamteindruck: 10/10
Tracklist: Song for the Warld/ Herbsttag (feat. Heim und Flucht Orchester)/ Spielzeugland (feat. Cielo Faccio Orkestar, Heim und Flucht Orchester & Mittekill Herrenchor)/ 4000km (feat. Dana Dumann & Heim und Flucht Orchester)/ Phantom der deutschen Opfer/ ABC/ Römerhofschule (feat. Mohamed, Seif & Milad)/ Otok/ Antiwachs/ Druckwellensittiche (feat. Pastor Leumund)/ Personal Manager/ Er soll sich nicht rumschieben lassen/ Yusef (feat. Yusef)
(gb)
MakeWar – Developing A Theory Of Integrity
Im Grunde sollten Platten immer möglichst zeitnah um ihre Veröffentlichung besprochen werden. Auch jmc versucht, sich an diesen Grundsatz zu halten. Läuft einem jedoch nach gut einem Monat eine Platte über den Weg, die das Potenzial zur Platte des Jahres hat, sollte man diesen Grundsatz tunlichst über Bord werfen. DEVELOPING A THEORY OF INTEGRITY von den New Yorkern MakeWar taucht seit ihrer Veröffentlichung Anfang Oktober immer mal wieder in der Timeline von Menschen auf, auf deren Geschmackssicherheit absolut Verlass ist – gerade wenn es um „Holzfällerhemd-Punkrock“ geht.
Der erste Song „Matador Pool Party“ startet etwas rumpelig, das Schlagzeug treibt Sänger Jose Prieto vor sich her und man fühlt sich an einen 800 Meter-Läufer erinnert, der seinen Lauf viel zu schnell angeht. Dass die Band genug Puste für die volle Distanz hat, zeigt sich dann nach genau 3:00 Minuten, wenn sie wie aus dem Nichts mit dem ersten Sing-Along der Platte um die Ecke kommt. Genau dieser Moment ist es, in dem man sein Herz an diese Platte verliert. Selten gab es in den letzten Jahren in diesem Genre eine Band, deren Songwriting so ausgefeilt, aber dennoch so frisch klingt. MakeWar bedienen sich nicht im Regal der 2 Minuten-Punk Rock-Stampfer, sondern spielen Punk Rock, wie er abwechslungsreicher kaum sein kann. Es grenzt nahezu an Frevel, aus diesem Gesamtkunstwerk einzelne Songs herauszupicken. „Don’t Panic“ ist aber beispielsweise viel zu gut, um unerwähnt zu bleiben. In diesem Song vereinen die drei New Yorker mit südamerikanischen Wurzeln, frühe Gaslight Anthem mit Taking Back Sunday als diese noch Hits konnten.
Freunde von The Gaslight Anthems Frühwerken, Hot Water Musics Hochphase und Iron Chics COURTESTY MONSTER MAN müssen diese Platte hören und werden sie lieben. Denn während Brian Fallon irgendwo Menschen aus Knete formt, legen MakeWar mit DEVELOPING A THEORY OF INTEGRITY – soweit kann man sich getrost aus dem Fenster lehnen – einen Genreklassiker raus. Leute, dies ist nicht mehr und nicht weniger als die Platte des Jahres!
VÖ: 07.10.2016, Gunner Records, Red Scare Records, http://makewarmusic.com/
Ohr d’Oeuvre: Matador Pool Party/ Ode/ DTFH/ Don’t Panic/ Tiger Lili/ On Feelings/ Insurance/ Sallie/ Distractions/ Dust
Gesamteindruck: 9,5/10
Tracklist: Matador Pool Party/ Ode/ DTFH/ Don’t Panic/ Tiger Lili/ On Feelings/ Insurance/ Sallie/ Distractions/ Dust
(at)
Ozzy Osbourne schleicht blutverschmiert durch die englischen Wälder, eine abgehackte Vagabundenhand in der Pranke und den Blumenkranz auf dem Kopf. Wolf People zelebrieren auf RUINS ihren Zivilisationspessimismus mit einem großen Rockbrett.
Es ist nicht überliefert, ob Wolf People früher in 70ties Hardrock Cover Bands gespielt haben. Auf RUINS wirkt es aber so, als hätten sie alle Sabbath und Zepplin Platten intravenös zu sich genommen. Straighter, trockener Hardrock, der sich die textlichen Inspirationen ähnlich der großen Paten aus der Sagen- und Naturwelt holt. Wird im zentralen Stück ein „Kingfisher“ besungen, nehmen andere Stücke Bezug auf Vagabundenfolklore. Dies drückt weniger aus, dass Wolf People weltentrückte Naturhippies sind, sonder vielmehr unter einer gewissen Zivilisationsmüdigkeit leiden. Eine Abkehr vom chaotischen Post-Brexit Großbritannien und dem populistischen Jahrmarkt der Jetztzeit, zurück zu den eigenen Wurzeln, zurück zur Natur. Es kann sicherlich zwiegespalten betrachtet werden, ob eine Flucht in die codierte Natur- und Folklorelyrik wirklich der richtige Weg ist, musikalisch funktioniert es aber. Das liegt an der Dynamik, die vom ersten Song „Ninth Night“ die Platte vorantreibt. Zudem schafft es die Band das Hardrockbrett durch eingstreute Folkelement aufzulockern. In den besten Momenten, in welchen die Band die Rockstrickmuster verläßt, wie in den epischen „Belong“ und „Salts Mill“, erinnern sie an die Fleet Foxes. Musikalisch zwei völlig verschiedene Welten, die aber durch die Verbindung zum 70er Folkrock funktionieren. Spannend macht die Platte dazu die weltentrückte Stimme von Jack Sharp, die weniger an die Rockröhre eines Ozzy erinnert, sondern eher an die Geisterstimme Nick Talbots von Gravenhurst. Wieder so eine Band, die in ihrer ganz eigenen Koordinatenwelt lebte. RUINS ist ein handwerklich perfektes Album, das wie beschrieben, nicht nur der Soundtrack für das kommende Bikertreffen sein wird, sondern alle Blumenkinder mit leichten 70er Aversionen zur Verzückung bringen wird.
VÖ: 11.11. 2016, Jagjaguwar / Cargo Records, http://wolfpeople.co.uk/
Ohr d’Oeuvre: Belong/ Salts Mill/ Kingfisher
Gesamteindruck: 7,0/10
Tracklist: Ninth Night/ Rhine Sagas/ Night Witch/ Kingfisher/ Thistles/ Crumbling Dais/ Kingfisher/ Reprise/ Not Me Sir/ Belong/ Salts Mill/ Kingfisher Reprise II/ Glass
(pd)
Simian Mobile Disco – Welcome To Sideways
Mitte der 00er-Jahre traten Simian Mobile Disco nicht nur als Nachfolger der ElektroPopBand Simian in Erscheinung, sondern blieben durch Remixe von Songs anderer Künstler wie Björk, Air oder den Klaxons langfristig im Gehörgang hängen. Die Studioalben überzeugten durch Klangwelten, die mittels ihrer Beats, Loops und Sequenzer den Hörer in den Bann zogen. Fast tranceartige Sphären eröffneten sich beim Zuhören.
Mit WELCOME TO SIDEWAYS veröffentlichen James Ford und Jas Shaw den Nachfolger zu WHORL, was kein Album im klassischen Sinne ist. Es ist ein nachträglich im Studio überarbeiteter Live-Mitschnitt, bei dem die beiden Bandmitglieder lediglich einen Sequenzer sowie einen Synthesizer nutzen.
Die Erwartungen zum neuen Album waren recht hoch und die Vorfreude auf neues Material war groß. Leider hält WELCOME TO SIDEWAYS den Erwartungen in keiner Form stand. Die Platte ist technisch gut gemacht, die Songs entwickeln durch eingängige Beats und Rhythmen eigene Strukturen. Ebenso lässt sich das Album sehr gut en bloc anhören, da die Übergänge zwischen den einzelnen Stücken fließend sind. Doch trotz dieser positiven Attribute springt der Funke nicht recht über und auch nach mehrmaligem Hören kickt es nicht. Weder verankert sich ein Song wirklich im Ohr, noch entwickelt das Album einen echten Groove. Vielmehr fragt man sich, warum Mr. Ford und Mr. Shaw es nicht schaffen, den Hörer abzuholen, wie es ihnen früher so oft gelang.
VÖ: 11.November 2016, Delicacies, http://www.simianmobiledisco.co.uk/
Ohr d’Oeuvre: – / –
Gesamteindruck: 4,0/10
Tracklist: Happening Distractions/ Far Away from a Distance/ Bubble has no anwsers/Staring at all this handle/ Faceo to Face with spoon/ Space is filled with ringing/ Remember in Reverse/ Flying or falling/ Drone follows me everywhere/ Welcome to sideways/
(df)