Lyvten – Bausatzkummer
Auf ihrer zweiten LP BAUSATZKUMMER gehen Lyvten nicht den sicheren Weg und führen einfach das erfolgsversprechende und relativ eingängige Konzept der Debütplatte weiter, sondern entfalten einen schweißtreibenden – teils düsteren – Mix aus Punk, Noise, Post- und Hardcore, der gezuckert wird mit zeit- und selbstkritischen Texten.
Mit ihrer 2015er Platte SONDERN VOM MUT, MIT DEM LEBST holten sich Lyvten den inoffiziellen Titel das deutschsprachige Pendant zu Boysetsfire zu sein, mit ihrer mitreißenden Mischung aus Dampfhammerpunk und Hardcore, der alles ziemlich platt walzte. Mit dem Eröffnungstrack „Bleib so anders“ knüpft BAUSATZKUMMER nahtlos daran an. Allerdings zeigt sich hier bereits ein deutliches Abrücken vom straighten Songwritingansatz, da der Song durch Noise- und Moshparts gebrochen wird. Mit „Alles Asche“ wird dieser Eindruck dann konkreter, eine doomige Strophe im Stil von EA80 wird mit einem durchgenüppelten und hymnischen Refrain gekreuzt. Das ganze steigert sich gegen Ende zu einem wilden Screamo Mix. Diese Lust verschiedene Stile und Stimmungen in den Songs zu vereinen durchzieht die gesamte Platte. Das Ergebnis ist ein teils schwer mäandrierender oder einfach nur erschlagender Mix aus Punk, Noise und Screamo, wenig hymnisch, aber größtenteils einnehmend. Auflockerungen bringen vereinzelt eingestreute poppige Elemente wie die Synthiemelodie in „Nur das Beste“. Vom Gesang erinnert gerade dieser Song an KMPFSPRT. Sowieso wandelt der Gesang sich fast von Song zu Song, kreuzen sich heiser geschriene Parts mit gesprochenen Strophenabschnitten, um dann in einem vielstimmigen Chor zu implodieren. Dieser Mix funktioniert oft, aber nicht immer auf BAUSATZKUMMER. So reißen die Vorabauskoppelung „Politur und feine Sitten“ sowie der straighte Punker „Hail Kristialin“ oder das Fugaziverquerte „Echo“ sofort mit. Auch „Nagel und Metall“, in welchem Lyvten wie die böse Skeletonversion von Turbostaat wirken, will direkt mitgeschrien werden, während das akustisch geprägte „Mein’s Todnach“ oder „Globus Headfirst“ etwas angestrengt rüberkommen, zu verkopft, als wolle man bewusst das Gas rausnehmen, um die Inhalte besser wirken zu lassen. Leider geht damit auch die Dynamik verloren. Die Tempoverschleppung wäre gar nicht nötig gewesen, denn trotz allem Lärm geht bei den anderen Songs nicht der Inhalt verloren, seien es die dystopischen Betrachtungen in „Alles Asche“ oder die Beschreibung der alltäglichen Teenagerhölle in „Politur und feine Sitte“.
Insgesamt ist BAUSATZKUMMER ein mächtiges und ambitioniertes Stück deutschsprachigen Punk und Post- Hardcores. Die Wut in den Texten ist machmal mit den Händen zu fassen. Die Schweizer ergänzen dieses Punkrockjahr um ein Werk, was sich angenehm abhebt vom indieorientierten Punkrock, der zurzeit angesagt ist.
VÖ: 6.Oktober 2017, Twisted Records
Ohr d’Oeuvre: Alles Asche/ Nagel und Metall/Politur und feine SItten
Gesamteindruck: 6,5/10
Tracklist: Bleib so anders / Alles Asche/ Nur das Beste/ Politur und feine Sitten/ Forever wir/Mein’s Todnach/ Globus Headfirst/ Hail Kristallin/ Echo/ Nagel und Metall/Lasciare
(pd)
Tim Neuhaus – Pose I + II
Tim Neuhaus – vielen bekannt als Cluesos Tourschlagzeuger – ist in den letzten Jahren sehr umtriebig gewesen. Neben seiner Trommlertätigkeit wirkte er auf vielen Alben bekannter Künstler wie z.B. Die Höchste Eisenbahn, Marcus Wiebusch oder Gisbert zu Knyphausen mit. Daneben produzierte er verschiedene Künstler und veröffentlicht seit 2005 eigene Stücke. In diesem Herbst erscheint mit Pose I & II sein insgesamt 4. Studioalbum auf dem GHVC-Label.
Und die 13 Stücke gehören sicherlich zu dem charmantesten und eingängigsten, was Neuhaus bisher als Solokünstler veröffentlicht hat. Dabei weisen die Songs Querverbindungen zu anderen deutschen Indiegrößen der letzten zwei Dekaden auf. Hier eine Prise Miles, dort etwas Readymade, zudem ein wenig Honig und bei den Arrangements und dem Songwriting stellt sich eine Frage: Welchen Einfluss hat der studierte Musiker Neuhaus auf die verschiedenen Künstler gehabt, mit denen er etwas veröffentlichte oder beeinflussen sie seine aktuellen Arbeiten? Selbige Frage lässt sich nicht auflösen. Es bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass POSE I + II ein gutes, gefälliges und vor allem rundes Indiepopalbum ist.
Neben der klassischen Instrumentierung Gitarre, Bass und Schlagzeug bindet Neuhaus Streicher, Bläser und Chöre in die Songs ein, wobei das ganze Album eine homogene Einheit bildet, aus welcher einige Songs rausstechen. Zum einen der Opener „The Music That You Are“, ein wunderbares, hymenhaftes Popstück. Neuhaus hat eine kleine Ode über Musik und die besondere Bedeutung für eine Person geschrieben. Das rockige „American Dream in Berlin“ lädt zum Tanzen ein und erinnert wie bereits erwähnt an Miles. „A little love“ ist eine epische und emotionale Ballade. Es entwickelt sich schon jetzt die Vorfreude, den Song live zu hören. Aus dem Projekt Tour of Tours findet sich auf POSE I + II mit dem Song „Lila“ noch eine Zusammarbeit mit Ian Fisher. Es ist eine fragile Indiepopperle, die Ihre Intensität und Stärke durch die Mixtur aus den akustischen Gitarren, den Streichern in Verbindung mit den Gesangssequenzen entwickelt. Der Song hat einen Gänsehautfaktor beim Anhören.
Das Album macht Spaß und einige Songs werden die dunkle Zeit im Herbst besonders erhellen können. Zudem wird es in vielen verschiedenen Situationen ein guter, passender Begleiter sein und dem Hörer feine Momente bescheren. Es bietet sich aber an, dass POSE I + II idealerweise in Gänze gehört wird, da das Album aufgrund der gewählten Reihenfolge der Songs eine besondere Dynamik entwickelt. Einen Besuch eines Neuhaus-Konzerte auf der Tour im Winter ist sicherlich eine gute Entscheidung und gibt die Möglichkeit, das Album im Live-Umfeld zu erleben.
VÖ: 22.09.2017, GHVC – https://www.tim-neuhaus.de
Ohr d’Oeuvre: The Music That You Are / American Dream in Berlin/ A little love/ Lila
Gesamteindruck: 7,0/10
Tracklist: The Music That You Are/ American Dream in Berlin/Starting to Lose It/ Forest Fire/ A Little Love/ Anyone You Need To Call?/ Tomorrow´s Somewhere Else/ Control/ Shine On/ Realize/ BSTRD/ Lila (feat. Ian Fisher)/ Pose
(kof)