Kettcar – Ich vs. Wir
„Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser“ („Trostbrücke Süd“) – Diesem Gedanken stellt sich das neue Album der Hamburger Band Kettcar. Das Radio einfach ausmachen, wegschauen, Probleme ignorieren funktioniert nicht mehr. Kettcar sind auf ICH VS. WIR politisch wie nie und setzen sich klug mit den Entwicklungen unserer Zeit auseinander.
Fünf Jahre und ein Soloalbum des Frontsänger Marcus Wiebusch später ist die Band mit dem fünften Studioalbum ICH VS. WIR zurück. Und etwas ist geschehen. War Kettcar für viele Befindlichkeits-Pop und Kuschel-Indie, geliebt für die lyrischen Texte und gemocht für die leisen, feinen Töne – sind Kettcar 2017 politisch und üben massiv Gesellschaftskritik. Wahrscheinlich waren die Entwicklungen der letzten Jahre selbst für die altersmilden End-vierziger zu viel und daher, so scheint es, besann man sich nun auf die alten Punk-Wurzeln der „… but alive“-Tage.
Ob das den mitgealterten Hörern, die mittlerweile erfolgreich das geisteswissenschaftliche Studium abgeschlossen haben, nun berufstätig sind und mit Freunden abends beim Weißwein (nicht zu viel!) sitzen und über Gentrifizierung (zu viel!) diskutieren, obwohl sie selber ein Teil des Problems sind gefällt, ist fraglich. Aber auch egal. Es findet kein künstliches Aufladen der Musik mit politischen und bedeutungsschwangeren Texten statt, so wie es viele andere Bands tun, um fehlende Innovation dann doch noch zu Geld zu machen. Die Beobachtungen und Haltungen auf ICH VS. WIR wirken authentisch, fein und differenziert. Bestes Beispiel hierfür ist der dem Album titelgebende gitarren-krachende Song „Wagenburg“. Eine schlaue Auseinandersetzung mit den Mechanismen des Drangs nach Individualität, dem Ich, und dem Verhalten von Menschen in Gruppen, dem Wir. In der ersten und vorab veröffentlichten Auskopplung „Sommer `89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ benutzt Wiebusch, wie schon in seinem Soloalbum „Konfetti“ mit „Der Tag wird kommen“ zum Thema Homophobie und Fußball, Indie-Hiphop-Sprechgesang um wirksam wichtige Inhalte und Geschichten zu erzählen. Diesmal die deutsch-deutsche Geschichte von Flucht, die gewollt auch die Auseinandersetzung mit Flucht im Jahr 2017 impliziert.
Und das Fußball-Milieu wird auch im aktuellen Album wieder kritisch beleuchtet („Mannschaftsaufstellung“). Fußball als Abbild der Gesellschaft, aber auch Auseinandersetzung einer Fußballaffinen Band – Wiebusch ist zum Beispiel glühender St. Pauli-Anhänger – mit aktuellen Entwicklung der Fankultur. „Trostbrücke Süd“ ist eines der Highlights des Albums. Eine feine Alltagsbeobachtung, dessen Rahmen eine Busfahrt bildet. Weiter geht es im Stile Springsteens mit „Benzin und Kartoffelchips“: Ein Lied wie ein kitschiger Roadmovie, eine „wir wollen noch einmal das Meer sehen, bevor es ins Gefängnis geht“ -Geschichte. Muss man mögen, bei Kettcar funktioniert aber auch das!
Musikalisch überrascht das Album nicht wirklich und bietet wenig Neues. Die Gitarren klingen passend zu den Texten wieder etwas wütender. So wie Kettcar 2017 klingt, klingt Kettcar ziemlich gut!
In ICH VS. WIR vereint sich ein gut gemachtes Indie-Album, mit gut gemeintem gesellschaftspolitischem Anspruch. Wo die anderen Größen des Geschäfts es an Haltung vermissen lassen, füllen die Hamburger das Vakuum. In dem fast hymnischen letzten Lied „Den Revolver entsichern“ brechen die Punks im Ruhestand eine Lanze für die Gutmenschen, die sie selber in ihrer Jugend belächelt haben. Ein Begriff der mittlerweile leider fester Teil des Sprachgebrauchs politischer Agitation geworden ist. Kettcar erinnert hier an die eigentliche Bedeutung: Es geht vor allem um das tägliche Ringen, das Wirken im Kleinen und mit guten Absichten, welches den Unterschied macht und entscheidet in welcher Welt wir leben. Mehr Kettcar im Radio und weniger Scheißmusik wären daher schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.
VÖ: 13. Oktober 2017, Grand Hotel van Cleef (Indigo), www.kettcar.net
Ohr d’Oeuvre: Wagenburg/ Sommer `89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)/ Benzin und Kartoffelchips/ Trostbrücke Süd
Gesamteindruck: 8/10
Tracklist: Ankunftshalle/ Wagenburg/ Benzin und Kartoffelchips/ Sommer `89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)/ Straßen unseres Viertels/ Auf den billigen Plätzen/ Trostbrücke Süd/ Mannschaftsaufstellung/ Das Gegenteil der Angst/ Mit der Stimme eines Irren/ Den Revolver entsichern
(ml)
Citizen – As you please
Mit Ihrem dritten Album AS YOU PLEASE machen Citizen eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Verhältnisse in den USA und schaffen damit ein musikalisch hochspannendes und inhaltlich verstörendes Stück Musik.
Die Perspektiv- und Trostlosigkeit, die in Teilen der USA derzeit herrschen, lässt sich wohl nur schwer nachvollziehen. Citizen machen sich mit AS YOU PLEASE auf die Spurensuche, versuchen dieser Auflösung und Atomisierung des amerikanischen Traums irgendwie näher zu kommen. Herausgekommen ist ein vielschichtiges Album zwischen Ohnmacht, Wut und der Suche nach ein wenig Licht in dem ganzen Chaos. Die Band zeigte in ihrer bisherigen Schaffensphase zwei Seiten, die sie auf ihrer dritten Platte zusammengeführt und musikalisch weiterentwickelt. War YOUTH ein Überalbum zwischen Post-Grunge und Emopop, eine durchgehende Hymne, die getragen wurde von Mat Kerekes Gesang, der zwischen Euphorie und Geheul pendelte, das sofort ins Ohr ging, war das zweite Album EVERYBODY IS GOING TO HEAVEN, eher eine Liebe auf den zweiten Blick. Die Stimmung war sehr viel finsterer, die Songs basslastiger, der Gesang intensiver. Auf AS YOU PLEASED vereinen sie beides zu einem dynamischen Album, was in Teilen wieder die Pop- und Hymnenhaftigkeit von YOUTH aufweist und diese mit einem sehr ausdifferenzierten Songwriting kombiniert, wie es sich bereits auf der zweiten Platte andeutete. Ein Sound, den man in früheren Zeiten sicherlich Alternativerock genannt hätte. Mit „Jet“ und „In the Middle of it All“ beginnt es furios, nimmt schon fast zu viele Emotionen, Ideen in die Hand und unterstreicht den Hang der Band aus Ohio zu zeitlosen Melodien und gewagten Songbrüchen, wie es später auch in dem wunderbaren „Fever Days“ durchschimmert, wo die handzahm gezupfte Gitarren vom Bass einfach weggewischt werden, um später von Kerekes Gesang an die Wand gedrückt zu werden. Insgesamt bewegen sich die Songs alle im Midtempobereich wie man es von Citizen gewohnt ist. Sie graben sich eher langsam und unausweichlich ins Hirn, als mit dem Knalleffekt auf eben solches einzuschlagen, sei es durch die pulsierende Gitarren in „Control“ oder dem explodieren Gesang in „World“.
Dabei ist Kerekes, warm – verzweifelter Gesang das richtige Medium die Perspektivlosigkeit und Wut zu kanalisieren, die unterschwellig in den Songs mitschwingt. Dies schlug sich auch schon im Video zur zweiten Single „In the middle of it All“ nieder, die fast mit einer Trainspotartigen Aufzählung der „Do‘s and Dont’s“ moderner Überflieger begann, um anzukommen beim einsamen Tod in irgendeinem Heimzimmer. Dabei kommen die Texte nicht holzschnittartig, sondern methaphorisch, teilweise eher poetisch rüber, was die Vielschichtigkeit des Werkes nochmal unterstreicht. AS YOU PLEASE ist ein kraftvolles Stück Alternativerock, worin aber leider an manchen, wenigen Stellen auch die Stolperfalle liegt. Da verlieren die Songs doch ein wenig an Kraft im dahinmäandrieren, wollen die Refrains nicht richtig zünden. Allerdings handelt es sich um Ausnahmen, welche die Band mit dem folgenden Stück wettmacht. Mit „Flowerchild“, einem akustisch getragenen Stück endet die Platte versöhnlich, mit einem Blick über die graue Gegenwart hinaus.
VÖ: 6.Oktober 2017, Run for Cover Records, http://citizentheband.net/
Ohr d’Oeuvre: Jet / World/ Fever Days
Gesamteindruck: 8,0/10
Tracklist: Jet/ In the Middle of it All/ As you please/ Medicine/ Ungly luck/ World/ Fever Days/ Control/ Discrete Routine/ I forgive no one/ You are a star/ Flowerchild
(pd)
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