Angelika Express – Letzte Kraft voraus
In einer Musikgesellschaft, deren kommerzielle Oberschicht nur noch Platz bietet für durchkonzipierten Konsensmist, ist jeder unterhalb dessen stattfindende künstlerische Output, der eine eigene Linie verfolgt und nicht nach kurzer Zeit wieder von der Bildfläche verschwindet, zu begrüßen. Deswegen gilt es, das neue Album von Angelika Express, LETZT KRAFT VORAUS, mit offenen Armen zu empfangen.
Vielleicht liegt es an der Bandheimat Köln, die gleich in drei Songs eingeflochten wurde, dass die Platte funktioniert wie die Hits zu jeder neuen Karnevalssession: Beim ersten Durchlauf zur Kenntnis genommen, beim zweiten Hören gefällig wiedererkannt und ab der dritten Runde singt man schon begeistert mit, während man noch überlegt, was daran so besonders sein soll.
Thematisch geht es auf LETZTE KRAFT VORAUS kämpferisch zu, die Texte sind ein Statement gegen die Akzeptanz der Zustände und es wird fleißig beschimpft, was unter dem Verdacht übertriebener Konformität steht. Freilich, die nächste Revolution wird von diesem Album nicht ausgehen. Ein Song über die Nation, in dem sich BRD auf NRW reimt, ein Song über Umbrüche in der kleinen Heimatstadt oder ein Jägerzaun-Song sind nun wirklich alles keine Innovationen, die nicht schon von Anderen ausgiebig bearbeitet wurden. Und realistisch gesehen, wird LETZTE KRAFT VORAUS seine Zielgruppe auch weniger auf die Straße denn auf die Tanzfläche führen. Aber lieber zu den richtigen Parolen die Hüften schwingen, als sich von den falschen davon abhalten lassen.
Die besten Momente hat die Platte tatsächlich, wenn die Songs ohne Umwege auf den verdammten Hit hinarbeiten, am gelungensten bei „Kaiser von Köln“, „Wir kommen wieder“ oder „Comeback im Dreck“. Ebenfalls hervorzuheben sind die beiden eröffnenden Stücke „Geh gegen den Rhythmus“ und „Letzte Kraft Voraus“, sowie das mit Love A‑Sänger Jörk Mechenbier aufgenommene „Vinylbeton“, bei dem sich Angelika Express ein wenig an die alte Fehlfarben-Verbindung zu erinnern scheinen, deren Vorband sie einst waren.
Mit LETZTE KRAFT VORAUS untermauern Angelika Express ihren Status als zuverlässiger Lieferant gefälliger Melodien und eingängiger Refrains mit Punkattitüde und Popappeal.
VÖ: 17.November 2017, Unter Schafen Records, http://www.angelika-express.de
Ohr d’Oeuvre: Kaiser von Köln/ Letzte Kraft Voraus/ Wir kommen wieder
Gesamteindruck: 7/10
Tracklist: Geh gegen den Rhythmus/ Letzte Kraft Voraus/ Vinylbeton feat. Jörk Mechenbier (Love A)/ Geboren in der BRD/ Am letzten Donnerstag im Mai feat. Suzie Kerstgens (Klee)/ Ein Jahr/ Schönheit oder Mut/ Wir kommen wieder/ Comeback im Dreck/ Kaiser von Köln/ Jägerzaun/ Mister Fantastik/ Agentur/ Agenten feat. Frank Spilker (Die Sterne)/ Für Paul
(tj)
Fabrizio Cammarata – Of Shadows
Catenaccio, Pasta, Pinot Grigio, Perroni, Fiorentina, Torino, Alfa, Totti, Espresso, Pizza und und und – Bis zu diesem Spätherbst kamen dem hier Schreibenden zur Apenninhalbinsel samt Sizilien viele Abstraktionen in den Sinn, aber sie hatten kaum einen musikalischen Bezug. Dieser, wenn er denn vorhanden war, beschränkte sich oftmals auf den Korridor zwischen Ramazzotti und Nannini. So eindimensional die musikalische Sichtweise bisher war, so sehr erweiterte das Kaltern Pop diesen Horizont.
Neben den wunderbar fragil-schönen Birthh mit ihren elektropoppigen Indiesongs trat der Sizilianer Fabrizio Cammarata durch seine Auftritte bei dem Festival ins Blickfeld. Er spielte in Kaltern seine Stücke zum einen zur Festivaleröffnung in der Franziskanerkirche in Begleitung von Cantus Domus und zum anderen trat er im Weinmuseum auf. Über die Auftritte ist schon an anderer Stelle von JMC berichtet worden. Aber – und das ist der entscheidende Faktor – er legte durch sein Songwriting, seinen Gesang, sein Gitarrenspiel und seine Bühnenpräsenz die Messlatte sehr hoch. Diese Wirkung ist umso höher einzuschätzen, wenn sie vor dem Hintergrund betrachtet wird, dass Cammarata einem Großteil der Festivalbesucher zuvor gänzlich unbekannt gewesen sein dürfte. Zur Schande muss eingestanden werden, dass die im Juli erschiene EP IN YOUR HANDS aufgrund des Festivalsommers etwas untergegangen ist.
Aber, um diesen Fehler zu beheben, die Veröffentlichung seines Albums OF SHADOWS auf dem Haldern Pop Label bestätigt die aus den Live-Auftritten resultierenden Erwartungen. Es muss den Label-Machern vom Niederrhein ein Riesenkompliment gemacht werden, dass sie diesen Songwriter-Diamanten in bester Trüffelschweinmanier ausgebuddelt haben und verpflichten konnten. Cammarata brilliert auf OF SHADOWS durch eingängige, grazile Popperlen, die offensichtlicher Weise zum größten Teil nur mit der Gitarre von ihm geschrieben wurden. Auf dem Album wurden die elf Stücke zum großen Teil mit Schlagzeug, Bass, Tasteninstrumente und gelegentlich gesampelten Fragmenten eingespielt. Ergebnis aus den Aufnahmen ist eines der besten – wenn nicht das beste – ruhige Alben des Jahres. Die Stücke sind facettenreich, leben neben der Melodie im Songwriting von der Stimme Cammaratas. Sie überzeugt weniger durch ihre Oktavenbandbreite als vielmehr durch die passende atmosphärische Ausrichtung zur Songdynamik. Dieses Talent offenbarte er schon in Kaltern. Und erst beim Hören von OF SHADOWS wird klar, dass es ihm uneingeschränkt gelungen ist, die Songs sowohl in ihrer Intensität als auch in ihrer Schönheit live zu spielen.
Auch nach mehrmaligem Hören fällt es schwer, gesonderte Empfehlungen aus diesem Album für das Ohr d´Oeuvre zu geben. OF SHADOWS ist dafür ein zu homogenes Album, bei dem alle Stücke für sich alleine wie auch in der Reihenfolge auf dem Tonträger wie aus einem Guss wirken. Nach dem letzten Song wird direkt wieder der Play-Button gedrückt, um diesem großartigen Musikklängen aufs Neue lauschen zu können.
Als Fazit zu diesem wunderbaren Album ist folgendes festzuhalten. Zum einen ist es uneingeschränkt empfehlenswert, sich OF SHADOWS als Original in den heimischen Plattenschrank zu stellen. Zum anderen muss sich Cammarata mit dem hier vorliegenden Album hinter keinem der sogenannten Großen aus dem Singer-/Songwriter-Genre verstecken. Wer die Möglichkeit hat, den Italiener noch bei einem seiner Auftritte in diesem Herbst zu sehen, sollte das definitiv machen. Es gibt wenig bessere Optionen zur Abendgestaltung.
VÖ: 17.11.2017, Haldern Pop Recordings – www.fabriziocammarata.com
Ohr d’Oeuvre: Come And Leave a Rose/ Lorca´s Rose/ What Did I Say/ Hold Me Now, Still Night
Gesamteindruck: 9,0/10
Tracklist: Long Shadows/ Come And LEave a Rose/ In The Cold/ You´ve Been On My Mind/ Lorca´s Rose/ Naked For You/ What Did I Say/ I Don´t Belong Here/ Hold Me Now, Still Night/ Say Goodbye/ Mi Vida
(kof)