Great Collapse – NEITHER WASHINGTON NOR MOSCOW… AGAIN
Eins ist sicher: Zeiten, in denen ein irrer Narzisst im Oval Office und ein ebenso irrer Narzisst in Pyongyang sich darum streiten, wer den größeren Atomknopf hat, brauchen wir wütenden, linkspolitischen Hardcore Punk! In den letzten Jahren wurde der Rückzug des Hardcore ins Private und Emotionale oft betrauert und die Schultische waren bekritzelt mit Slogans wie „Punk is dead!“ Dass das nicht stimmt und der Hardcore noch immer gebraucht wird, um auf politische und gesellschaftliche Missstände hinzudeuten, beweist unter anderem die „Supergroup“ Great Collapse mit ihrem neuen Album NEITHER WASHINGTON NOR MOSCOW… AGAIN. Mehr noch als auf ihrem Debüt von 2015 HOLY WAR.
Auf gewisse Art und Weise deutet der sperrige Albumtitel bereits den nicht so leicht verdaulichen Inhalt der Platte an. Mit brachialer Energie setzt der Opener „A Tale of Two Cities“ mit dem Satz „Like the dogs of Western Culture!“ ein. Der Titel ist eine deutliche Referenz auf die zwei im Albumtitel genannten Städte (oder doch auf Charles Dickens?). Der Sound wird über die elf Songs hinweg von harten, schnellen Gitarrenrhythmen und lauten, rauen Schlagzeugbeats bestimmt. Dazu singt/ schreit Thomas Barnett in seiner eigentümlichen Gesangsweise die linken Utopien in aller Deutlichkeit raus: „You’re not the only one, we’ll stand as legion. No more Beijing, Moscow, or Washington, right? Tell me you won’t live and die for these fictions? This is the antidote for the virus of wealth as religion“ („An Injury to One“).
Den Höhepunkt erreichen die Lyrics bereits im dritten Track des Albums, wo es heißt: „Listen, Nazi! Never Again!“ („Atomic Calendar“). Die Zeile möchte man Alexander Gauland und Bernd (oder war es doch Björn?!) Höcke am liebsten gleich ins Gesicht schreien. In „Southern Exorcism“ wird dann das US-amerikanische Gegenstück zur AFD angeprangert, deren „Hauptballungszentrum“ sich anders als in Deutschland im Osten, im Süden befindet.
Der letzte Track, „Escape velocity“, hält einerseits ein grandioses Stakkato-Riff bereit, und beendet das Album außerdem auf einer positiven Note, indem der Zusammenhalt als „Gegengift“ gegen Rechtsruck und Faschismus, gegen kapitalistische Aushöhlung und reißerische Drohgebärden von größenwahnsinnigen Dikatoren (und solchen, die es gerne wären) deklariert: „With one collected breath we free our world from the trap between the walls“ („Escape velocity“).
Auf NEITHER WASHINGTON NOR MOSCOW… AGAIN kommt nicht nur der politische Standpunkt der Band deutlicher zum Ausdruck, auch das Instrumentale wirkt ausgefeilter als noch auf HOLY WAR. Wenngleich auch das zweite Album der Band aus ehemaligen und aktiven Mitgliedern aus international gefeierten Bands wie Strike Anywhere, Rise Against, Nations Afire und Set Your Goals kein musikalisches Meisterwerk ist, ist es dennoch ein wichtiger Beitrag zum Kampf gegen den allseits wieder aufkeimenden Faschismus. Manch einem sind die linken Utopien und Statements vielleicht schon zu deutlich, doch gerade diese Deutlichkeit, die an keiner Stelle Rücksicht auf Verluste nimmt, ist eine der Qualitäten dieser Platte. Es braucht mehr Bands, die in dem Diskurs gegen Rechts so explizit und unmissverständlich Stellung beziehen. Das war schließlich schon immer eine der größten Stärken des Hardcore Punks. Und Great Collapse führen diese Tradition mit NEITHER WASHINGTON NOR MOSCOW… AGAIN gekonnt fort.
VÖ: 26. Januar 2018, Uncle M, https://www.facebook.com/GreatCollapse/
Ohr d’Oeuvre: Atomic Calendar /Colony Blackout/ Escape Velocity
Gesamteindruck: 7,0/10
Tracklist: A Tale of two Cities / Who Makes / Atomic Calendar / Meltdown! / An Injury to One / Southern Exorcism / Forest For the Trees / Colony Blackout / Pretty Wreckage / Patient Zero comes Home / Escape Velocity
(rl)
Tocotronic – Die Unendlichkeit
Alle dürften schon mitbekommen haben, dass Album Nummer 12 DIE UNENDLICHKEIT der Gruppe TOCOTRONIC, die komplette Abkehr vom Diskurspop der ersten zehn Platten darstellt. Bereits auf der letzten Veröffentlichung, dem sogenannten roten Album, einem Konzeptalbum über die Liebe, herrschte eine neue Leichtigkeit. Die Gitarrenwände von SCHALL & WAHN und WIE WIR LEBEN WOLLEN, wurden gegen eine luftige Pop-Produktion eingetauscht. Im ersten Moment war man angesichts der neuen Ausrichtung ziemlich aus dem Häuschen. Die Songs gingen auch sehr schnell ins Ohr. Leider ist das mit der leicht zugänglichen Popmusik immer so eine Sache. Es ist ähnlich wie beim Konsum von Süßigkeiten. Was sich anfangs nur wie eine harmlose Verlockung anfühlt, verursacht schnell Magenschmerzen. Und in hohen Dauerdosen kommt es zu ernsthaften Schäden wie Fettleibigkeit, Bluthochdruck oder Diabetes. In ihrem Track „Zucker“ heißt es „Du bist ein toxisches Subjekt“.
Jetzt legen sie mit DIE UNENDLICHKEIT ihr autobiographisches Album vor. Die ersten sechs Tracks handeln von Dirk von Lowtzows Jugendjahren im Schwarzwald und dem Umzug nach Hamburg. Die Platte beginnt mit dem Titelsong „Die Unendlichkeit“. Ein, mit einigem Hall- bzw. Dubschnickschnack aufgemotztes, ziemlich wichtigtuendes Liedchen, das recht schnell in den Unendlichkeiten des Weltraums verglühen wird. „Hey Du“ – eine interessante Beobachtung über den Clash zwischen alter und neuer Mittelschicht, den Autotune – oder besser – Talkbox-Quatsch „1993“ und „Electric Guitar“ kannte man bereits als Vorabsingles, oder deren Rückseite. „Tapfer und grausam“ und „Ich lebe in einem fremden Wirbel“ hätten auch mehr oder weniger gut auf die rote Platte gepasst.
Und dann – plötzlich erklingt das Lied „Unwiederbringlich“. Dessen Melodie und Produktion (mit dem langen Stabspiel-Intro) unüberhörbar deutlich von Carl Orffs Schulwerk beeinflusst ist und wahrscheinlich der bis dato ungewöhnlichste Beitrag im großen Tocotronic-Katalog ist. Der musikalische Reisebericht, der vom zu späten Eintreffen am Sterbebett handelt, rührt zu Tränen. Weniger wegen der Lyrik, sondern wegen der überwältigenden Anlage der Komposition. Ob das live auf der kommenden Tour gespielt wird?
Das neue Album ist unbestritten die musikalisch bisher abwechslungsreichste Platte in TOCOTRONICs Diskographie. Aber als Kompliment ist das nicht wirklich zu verstehen. Zu sehr handelt es sich bei der neuen Platte, um einen nicht immer ganz geschmackssicher eingerichteten, musikalischen Gemischtwarenladen. Die Süddeutsche schrieb zu Recht, dass den Songideen etwas „Peter-und-der-Wolf-Haftes“ anhaften würde. Aber das ist natürlich immer noch Gejammer auf sehr hohem Niveau.
VÖ: 26.Januar 2018, Vertigo / Universal, https://tocotronic.de/
Ohr d’Oeuvre: Unwiederbringlich/ Bis uns das Licht vertreibt
Gesamteindruck: 6,5/10
Tracklist: Die Unendlichkeit/ Tapfer und grausam/ Electric guitar/ Hey Du/ Ich lebe in einem wilden Wirbel/ 1993/ Unwiederbringlich/ Bis uns das Licht vertreibt/ Ausgerechnet Du hast mich gerettet/ Ich würd’s Dir sagen/ Mein Morgen/ Alles, was ich immer wollte, war alles
(bk)