Die Nerven – Fake
Die Nerven veröffentlichen mit FAKE ihr viertes Studioalbum und die einschlägigen Stimmen des Musikjournalismus und des Feuilletons überschlagen sich seit Tagen wieder in Lobeshymnen und rufen das Album zum Favoriten der Jahresbestenlisten aus. Auch wir wollen unsere Pflicht nicht vernachlässigen und nehmen das Werk unter die Lupe. Fakt ist: Es hat sich einiges getan im Nervensystem.
Die Nerven: Das sind Julian Knoth (Gesang, Bass), Kevin Kuhn (Schlagzeug) und Max Rieger (Gesang, Gitarre) und sorgen schon seit einiger Zeit unter anderem mit den Alben FUN (2014) und OUT (2015) für Furore in deutschen Musikjournalismus. Dabei sind sie weder bequem noch freundlich, einst sogar von „Der Zeit“ zur „am miesesten gelaunten Rockband“ gewählt. Die Band zeichnet sich weniger durch Smalltalk, sondern durch hohes musikalisches Können aus.
FAKE ist raffinierter, variationsreicher, aber auch poppiger als die vorherigen Werke und strotzt vor gnadenloser Aktualität: Entfremdung („Niemals“), das Streben nach Perfektion (“Alles falsch“) und absoluten Meinungen („Frei“) sind die Themen, die die Nerven auf 12 Songs sezieren. Und zwischen allem schimmert die Digitalisierung als verbindendes Thema durch. Zum Beispiel ist das Titelbild eine Widmung an Max` Liebe zu schlecht komprimierten JPG-Dateien. Kein Wort verkörpert den heutigen Zeitgeist besser als der Albumtitel. Die Nerven diagnostizieren: Die Welt leidet an Fake News, Fake Friends, Fake Meinungen, FAKE.
All dies wird verpackt in akustischen Wimmelbildern und einen milchigen Dunst von vagen, angedeuteten Textzeilen und -fragmenten. Spannend ist, dass das Album musikalisch offener und poppiger daherkommt. Waren früher viele Lieder im fundamentalem Post-Punk Gewand, öffnet sich FAKE den Balladen („Fake“), Poprock („Niemals“) oder funkigen Bassläufen („Roter Sand“). Natürlich finden sich auf dem Album der vier auch Post-Punk Stücke mit Hardcore-Einflüssen und Geschrei wie „Frei“ oder dem schwachen „Skandinavisches Design“.
Am Ende liegt das alles so schwer wie ein fettiges Essen im Magen und ist der Ernsthaftigkeit und Bedeutungsschwere eventuell zu viel. FAKE ist jedoch ein abwechslungsreiches, musikalisch anspruchsvolles und tolles Album geworden. Alle Lobpreisungen scheinen verdient. Eine Lösung für all die Missstände unserer Gesellschaft haben die ehemaligen Stuttgarter jedoch am Schluss des Albums auch parat. „Her mit euren Lügen. Her mit eurem Neid“ („Fake“) singen sie im letzten Lied des Albums und schwingen sich als Erlöser und Medikament für unsere krankende Welt auf.
VÖ: 20. April 2018, Glitterhouse (Indigo), https://www.facebook.com/deinemutteralter/
Ohr d’Oeuvre: Alles Falsch, Roter Sand
Gesamteindruck: 9 /10
Tracklist: Neue Wellen / Niemals / Frei / Roter Sand / Alles Falsch / Dunst / Aufgeflogen / Der Einzige / Skandinavisches Design / Explosionen / Kann’s nicht gestern sein? / Fake
(ml)
Not Scientists – Golden Staples
Punk de France: Im Gegensatz zu früheren Werken präsentiert sich das neue Album der Punkrocker aus dem französischen Lyon verspielt und tanzbar. Dabei schaffen sie es weder soft, noch fade zu wirken. Im Gegenteil – die Songs in neuem Gewand stehen Not Scientists prima.
Hervorgegangen aus „Uncommonmenfrommars“ und „No Guts No Glory“ im Jahr 2013, veröffentlichen die vier Franzosen von Not Scientists nun ihr drittes Studioalbum und bieten dem Hörer diesmal eher mehr Poppunk und Indie als Post-Punk. Waren bei den vorherigen Alben noch die einzelnen Instrumente in Gleichgewicht, so ist bei GOLDEN STAPLES die Leadgitarre klar der Star.
Verspielte und verschachtelte Gitarren-Riffs ziehen sich wie ein roter Faden durch alle zehn Lieder des Albums. Das geht soweit, dass im Opener „I’m Just About Ready to Beg“ der Gesang erst nach ca. 100 Sekunden Instrumentalgefummel einsetzt. Das erste Ausrufezeichen und den stärksten Song haben die Jungs aus Lyon mit „Perfect World“ eingespielt und wieder sagt die Gitarre wo es lang geht. Das krachende Intro im 80er-Jahre Stil ist ein klassicher Ohrwurm. Und auch inhaltlich geht es zur Sache: „So you want a perfect world, access denied!“ – eine klare Warnung an alle, die sich auf dem sinnlosen Wettlauf nach Perfektion verlieren. Dann jedoch folgt viel melodischer High School-Punk a la Blink-182 („Golden Staples,“ „Mechanical Reaction“). Mit „Paper Crown“ nähern sich Not Scientists wieder musikalisch den Zeiten früherer Alben an. Zügig peitscht der Song nach vorne, immer dabei: die Gitarren mit Flanger-Effekten. Das anschließende „Dark Tornado“ ist so catchy, Indie und gut, dass es bald auf keinem Dancefloor des Fjällravenrucksack, Birkenstocksandalen und Matetee-Publikums fehlen sollte. Natürlich gibt es auch schwächere Songs. Das pomadige „Sky on Fire“ oder „Submarine“ sind so welche.Obwohl es bei diesem Mal wohl eher „Poppunk ou Indie de France“ heißen muss, überzeugen Not Scientists auf GOLDEN STAPLES grundsätzlich mit melodischem Gitarrenspiel und einem starken 80er-Jahre -Pop-Einschlag.
Empfehlen darf man noch die Liveaufttritte der Franzosen in Deutschland und der Schweiz:
25.04.18 Aachen, Wild Rover
26.04.18 Osnabrück, Bastard Club
27.04.18 Berlin, Schokoladen
28.04.18 Zwickau, Straszenkonzert für alle #2
29.04.18 Braunschweig, B58
30.04.18 Bonn, Kult41
01.05.18 B-Nijlen, JH Kroenke
02.05.18 Düsseldorf, The Tube
03.05.18 Kusel, Schalander
04.05.18 Rastatt, Art Canrobert
20.07.18 CH-Gommer, Open Air
VÖ: 13. April 2018, Rookie Records/ Kidnap Music, https://notscientists.bandcamp.com/
Ohr d’Oeuvre: Perfect World/ Paper Crown/ Dark Tornado
Gesamteindruck: 8.0 /10
Tracklist: I’m Just About Ready to Beg/ Perfect World/ Sky on Fire/ Orientation/ Golden Staples/ Mechanical Reaction/ Paper Crown/ Dark Tornado/ Submarine/ Emergency Break