Kurz vor 21 Uhr betritt Mark Kozelek in Übergangsjacke, mit Textzetteln bewaffnet, zusammen mit seinem Pianisten die Bühne des SO 36. Mit circa 200 Personen im Saal wäre noch Platz für einige Zuschauer mehr gewesen. Nach dem dreistündigen Auftritt des ehemaligen Vorstands der Slowcore Ikonen RED HOUSE PAINTERS (der für Ahnungslose möglicherweise inzwischen längst zu einem Weirdo mit noch seltsameren Output mutiert ist) werden es noch rund 50 Leute sein. Sie werden Zeugen einer sehr unterhaltsamen und denkwürdigen Performance gewesen sein. Für mich eine der besten des Jahres.
Ein drei Stunden Konzert in dem 12 Lieder zum Besten gegeben werden (davon zwei Weihnachtslieder: Nat King Coles „The Christmas Song (Chestnuts Roasting On An Open Fire) und Bing Crosbys „White Christmas“), das muss man zugeben, ist vielleicht doch ein wenig speziell. Dass er nur in Berlin spielt, mag daran liegen dass Berlin die einzige Stadt in Deutschland ist, die Mark überhaupt mag. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass eine Minitour durch Deutschland möglicherweise für die hiesigen Veranstalter dann doch zu einem etwas zu unüberschaubaren Abenteuer werden könnte. Eigentlich total unverständlich. Der große Boxfan Mark Kozelek geht die Dinge nämlich im Allgemeinen sehr pragmatisch an. Den Song „I Cried During Wall Street“ hat er innerhalb von 20 Minuten auf einem Flug in den USA geschrieben. Für viele Musikjournalisten ist seine aus der Literatur stammende Methode des Stream Of Consciousness aber anscheinend eine reine Provokation. Vielleicht liegt das daran, dass sich in seinen Texte die banalen Dinge des Lebens immer wieder mit sehr pathetischen Passagen abwechseln. Wenn man Kozelek live erlebt, verbucht man diese Dinge jedoch ganz klar als seinen speziellen Humor. Apropos Humor: wer kann schon von sich sagen, dass er es geschafft hat eine Konzertcrowd dazu zu bewegen, immer lauter das Wort „Diarrhea“ im Chor zu singen.
Mit „1983 MTV Era Music is the Soundtrack of Outcasts being Bullied by Jocks“ und „I’m not laughing at you“ (eine Zusammenarbeit mit dem Jazz-Saxophonistin Donny McCaslin – der mit seiner Band Bowies letztes Album „Blackstar“ veredelte), hat Kozelek heute Abend zwei neue und sehr gute Songs im Angebot (fehlt in der Playlist unten – die Songs erscheinen erst im März des kommenden Jahres). Letzteres Stück handelt von seinen Jetlag infizierten Begegnungen mit amerikakritischen Bäckereiangestellten im frühmorgendlichen Gent.
Als Zugabe singt Mark zusammen mit einem engagierten Kandidaten („Ian Curtis – in a good way“) aus dem Publikum „I Can’t Live Without My Mothers Love“ – dem vielleicht anrührendsten Song der jüngeren Musikgeschichte, definitiv aus einem ihrer größten Alben („Benji“) der letzten Jahre.
Danach verschwindet der Eric Rohmer des Alternative wieder schlurfend von der Bühne – mit der Übergangsjacke und den Textzetteln. Jetzt muss er erstmal draußen auf dem Trottoir vor dem Club eine Kippe rauchen.
Das unfassbare 3 Stunden Konzert von Mark Kozelek. SO36 Solarpenguin Agency
Gepostet von jmc magazin am Montag, 19. November 2018