Hey Ruin – Poly
Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt und muss nur noch reingeschoben werden. AfD im Bundestag, immer noch Ertrinkende im Mittelmeer und immer noch eine Öffentlichkeit, die mal die Welt retten will und im nächsten Moment doch das nächste Tattoo zum wichtigsten Projekt der Gegenwart erklärt. Hey Ruin hätten einfach eine wütende Dampframme hinlegen und sich die wohlverdienten Lorbeeren einheimsen können. Doch auf POLY widersetzen sie sich der Versuchung und lassen die Überschriften zu Hause. Stattdessen sezieren sie lieber mit dem Skalpell und der untergeschobenen Popmelodie die Orientierungslosigkeit anno 2017.
Mit ihrer zweiten Platte POLY setzen Hey Ruin den eingeschlagenen Weg von IRGENDWAS MIT DSCHUNGEL aus 2015 fort. Weder die Songs, noch die Texte gehen den einfachen Weg, steuern auf einen eindeutigen Refrain oder einen vorhersehbaren Klimax zu. Stattdessen mäandrieren die gebrochen Songstrukturen um die collagenhaften Texte, nehmen unerwartete – aber fast immer richtige – Wendungen von der nächsten Tempoverschärfung bis zur Gänsehautmelodie, die plötzlich aus dem Off schlägt. Bei Hey Ruin‘s Post-Punk wird 2017 das Post deutlich größer als das Punk geschrieben. Zwar finden sich auf POLY noch die kurzweilige Noiseausbrüche wie in „Magneto“ oder straighte Indierocksongs wie der Opener „Ram“, aber diese erinnern mehr an den vertrackten, melodischen Sound früher Hamburger Schule Bands wie Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs oder Kolossale Jugend, denn an den zurzeit angesagten Indie-Deutschpunk. Die Songs leben von den bereits angesprochen Brüchen und Details, wie der treibenden Tempoverschärfung im schon erwähnten „Ram“, die einsetzende Melodiegitarre im stärksten Stück der Platte „Pinguine“ oder dem musikalische Zusammenbruch am Ende von „Mono“. Dabei verlieren die Tracks nie ihre Geschlossenheit, kommen die Einsätze auf den Punkt und fällen Hey Ruin fast immer die richtige Entscheidung, welche Wendung der Song nehmen soll.
Auch textlich ist die Wut der ersten Platte tief untersetzt worden mit Melancholie, wechseln die collagehaften Texte zwischen der Innenansicht und der gesellschaftlichen Kritik. So liest sich „Ram“ wie ein einziger Abgesang auf die deutsche Asypolitik und endet doch in der lakonischen Feststellung: „Eimersaufen. Augenwinkel. Betroffen sein. Ach, egal“ „Mono“ dagegen setzt sich mit der zu Schau gestellten, zwanghaften Individualität auseinander, die in der Szene immer wieder zur Schau gestellt wird „Es gibt mehr Lieder über Städte
als es Städte gibt. Und mehr in Haut gestochene Anker als es Matrosen gibt. Doch wir glauben wir sind sicher, dass wir was Besonderes sind. Zeugen gibt es reichlich – allesamt in Haft.“ Sätze für die Ewigkeit und eine Haltung mit der man sich nicht nur Freunde machen wird. Aber Hey Ruin dürfte es egal sein, haben sie mit POLY doch eine Platte vorgelegt, die eine Band auf ihrem bisherigen songwriterischen Höhepunkt zeigt und die durch die mangelnde Scheu vor Melodien und musikalischen Experimenten, den ein oder anderen Hit beinhaltet, der noch lange strahlen wird. Vereinen die Songs trotz Kritik, Resignation und Wut, doch auch immer den Appel nicht in eben dieser zu erstarren, sondern weiter zu machen, wie es im Titelstück „Poly“ so schön heißt: „Hand auf – Spuck drauf. Lass uns ganz anders als die Anderen sein und die Ironie nicht merken.“
VÖ: 24.November 2017, This Charming Man,www.facebook.com/heyruin/
Ohr d’Oeuvre: Ram/ Pinguine/ Mono
Gesamteindruck: 8/10
Tracklist: Ram/ Poly/ Smells like Teens/ Über dem Abfluss/ Magneto/ Pinguine/ Cortextrouble/ Mono/ Miliz vor Ort
(pd)
Lonely The Brave – Things Will Matter Redux
Lonely The Brave interpretieren ihre eigenen Songs neu. Ob das Marketing-Strategie ist oder nur die doch relativ lange Zeit bis zum neuen Material überbrücken soll – man weiß es nicht so recht.
Die Platte beginnt mit dem Titeltrack „Things Will Matter Redux“ – der einzige Song, der noch in keiner Version auf dem Vorgänger zu hören war. Er kommt sehr leise und sanft daher und der Gesang von David Jakes wirkt hier fast verletzlich. Ein wunderschöner erster Song!
Ab dem zweiten Stück ist die Platte genau wie der Vorgänger aufgebaut. Von „Black Mire“ bis „Jaws of Hell“ haben Lonely The Brave jeden ihrer eigenen Songs als Redux-Versionen gecovert. „Black Mire (Redux)“ steigt mit sehr elektronischen Tönen an und wirkt im Grunde wie auf einem DJ-Pult geremixt, mit ein paar „Special Effects“. Und auch „Rattlesnakes (Redux)“ kann nicht mit dem Original mithalten – war es doch einer der Höhepunkte des Vorgängeralbums. Hier hat die Band den ursprünglich energiegeladenen, dynamischen Song jetzt in einer leisen Piano-Version neu interpretiert, die dem Song nur leider nicht besonders gut steht, man bekommt schnell das Gefühl er bleibt schon in seinen Anfängen stecken. Bei „Diamond Days (Redux)“ funktioniert die Neuinterpretation mit Akustikgitarre dagegen erstaunlich gut. Mit „Radar (Redux)“ nehmen Lonely The Brave einem weiteren eigentlichen Höhepunkt völlig den Wind aus den Segeln. Viele Songs leiden eher an dem neuen reduzierten Tempo und Sound. Es war ja gerade die Dynamik, der Pathos und die Energie die THINGS WILL MATTER (nicht Redux) ausgezeichnet hat. Klar, all diese Eigenschaften könnte man sicherlich auch in ruhigeren Songs zum Ausdruck bringen. Das ist Lonely The Brave leider aber nicht gelungen. Die Songs sind nicht schlecht, doch hinterlassen sie leider einen faden Nachgeschmack von Langeweile und nicht-Erfüllter Erwartung. Schade.
VÖ: 10. November 2017, Hassle Records, https://www.musicglue.com/lonelythebrave
Ohr d’Oeuvre: Things will matter/Diamond Days (Redux)
Gesamteindruck: 5/10
Tracklist: Things will matter/ Black Mire (Redux)/ What If You Fall In (Redux)/Rattlesnakes (Redux)/ Diamond Days (Redux)/ Play Dead (Redux)/ Dust&Bones (Redux)/Radar (Redux)/ Tank Wave (Redux)/Strange Like I (Redux)/ Boxes (Redux)/ Jaws of Hell (Redux)
(rl)