Tag 1
Mit strahlendem Sonnenschein und hochsommerlichen Temperaturen, bei denen wir uns eher fühlen als wären wir irgendwo in der Wüste und nicht in Ferropolis in Sachsen-Anhalt, begrüßt uns das diesjährige ausverkaufte MELT! Festival, das nun schon in seine dreizehnte Runde geht.
Direkt am See gelegen und mit Braunkohlebaggern gespickt, die von WhoMadeWho in ihrer diesjährigen offiziellen MELT!-Hymne sehr passend „Gigantische Stahlgiganten“ genannt werden, bietet das Gelände eine einmalige Location für die nächsten drei Tage voller Elektro und Indiebeats.
Es ist noch angenehm leer, als um 18 Uhr Bonaparte aus Berlin die Mainstage betreten und mit ihren Partyhits wie „Anti Anti“ und „Too Much“ sowie „My Horse Like You“ aus dem aktuellen Album und ihrer unglaublich verrückten Bühnenshow für erstes kollektives Tanzen sorgen. Sich bei diesen Temperaturen in die dicken Kostüme zu zwängen, allein das verdient schon Respekt. Eher an ein Cabaret oder Tanztheater erinnert ihre Show, bei der nicht nur die Bandmitglieder selber auf der Bühne stehen, sondern auch Freunde, die nicht minder verrückt gekleidet mittanzen. Ob Frauen im weißen Gewand oder halbnackt, Pferde oder der in schwarz gekleidete Tod persönlich, zu sehen gibt es hier – wie bei Bonaparte üblich – genug, da wird die Musik fast schon wieder zur Nebensache. Spaß macht das natürlich trotzdem.
Um für eine Weile der brennenden Sonne zu entfliehen, verschwinden wir unters Dach, denn das Introzelt eröffnet derweil Sizarr, eine sehr junge Band aus dem beschaulichen Landau. Nicht viele Menschen haben sich um diese Uhrzeit hier versammelt, aber diejenigen die hier sind, wissen warum. Mit Vorschusslorbeeren ausgestattet, beweisen die drei Jungspunde mit ihren mal elektronischen Drum’n Bass, mal rockigeren Klängen und der warmen Stimme des Sängers, dass in ihnen noch so einiges Potenzial vergraben ist und sie keine Angst vor Experimenten haben. Eine Band, die man unbedingt im Auge behalten sollte.
Auf der Hauptbühne machen es sich nun die Schweden von Shout Out Louds bequem, deren Musik wunderbar zum beginnenden Abend passt. Sänger Adam kommt kaum mehr als ein „Thank You“ über die Lippen, aber das stört nicht weiter. Konzentrieren wir uns doch auf die Musik. Und die ist auch ohne Ted Malmros am Bass, der heute Abend auf seine Kinder aufpassen muss und dafür adäquate Vertretung geschickt hat, wunderbar. Beschwingt tanzt und wippt die Menge zu Songs ihres aktuellen Albums WORK bevor es mit „Tonight I Have To Leave It“ richtig ausgelassen wird. Musik, die mit ihren luftigen Melodien und süßer Melancholie wie gemacht ist für Sommerabende wie diesen.
Zeit zum Durchatmen bleibt an diesem Freitag nicht. In der Abenddämmerung betreten nun Tocotronic die Bühne und liefern ein furios überzeugendes Set ab. Dirk von Lowtzow freut sich über die untergehende Sonne, so langsam werden die Temperaturen erträglich und das Publikum muss nicht mehr ständig auf der Suche nach einem der wenigen Schattenplätze sein, sondern kann die neuen Tocotronicsongs wie „Die Folter Endet Nie“ und die älteren, das obligatorische „Let There Be Rock“, „Aber Hier Leben, Nein Danke“ oder das wunderbare „Am Ende des Kanals“ genießen.
Nach und nach gehen die Lichter der Bagger an und versetzen uns mit ihrer einzigartigen Beleuchtung in eine andere Welt. Wir befinden uns auf dem Planeten des MELT!-Festivals, die rostigen Bagger sind futuristisch anmutenden Giganten gewichen.
Passend dazu betritt um 22 Uhr die britische Band Delphic die Gemini Stage, die mit ihrer Lichtshow, glasklarem Sound und einer Setlist, die fast ohne Pause an ein never-endig Djset erinnert, mühelos überzeugen können. Die Synthies werden aufgedreht und die Masse verwandelt sich in ein tanzenden Pulk, fasziniert von der teilweise fast hypnotischen Wirkung der Band.
Pünktlich um 0:00 Uhr läuten dann The XX weiter drüben auf der Hauptbühne den Tageswechsel ein und überzeugen mit einem intensiven Set, das allseits berührte Menschen hinterlässt. Ohne große Show und aufs wesentliche reduziert, baut sich eine einzigartige Atmosphäre auf, die nicht vieler Worte braucht. Die intimen und ruhigen Songs büßen auch auf großer Bühne rein Garnichts von ihrer Wirkung ein. Ein neuer Song wird auch gespielt, der nahtlos an das erste Album anknüpft. Es werden Wunderkerzen angezündet und das Melt! beweist, dass auch ruhigere Töne auf einem Festival auf ganzer Linie überzeugen können.
Nach diesen entspannten Klängen wird es wieder Zeit für ein wenig Tanzmusik. Also zurück zur Gemini Stage, wo Kele Okereke mit ein wenig Verspätung die Bühne betritt. Hyperaktiv, stets schelmisch grinsend und mit einer gehörigen Portion Spaß, so präsentiert sich Kele, um sein elektronisches Solodebüt angemessen zu feiern. Spätestens bei „Tenderoni“ gibt es kein Halten mehr vor der überdachten Bühne. Die Masse rastet aus, hüpft, was das Zeug hält, und auch die gespielten Bloc Party-Songs werden lauthals mitgesungen.
Etwas weiter auf der Mainstage betreten nun die Foals und „Total Live Forever“ die Bühne.
Die atmosphärischen neuen Songs passen wunderbar zu der in Blau getauchten Bühne. Die Fohlen liefern eine rundum gelungene Mischung ihrer beiden Alben, geben alles und machen auch vor längeren atmosphärischen Instrumentalphasen keinen halt, werden aber vom Publikum leider teilweise etwas zurückhaltend aufgenommen.
Bevor es dann so langsam ins Bett geht, ist es noch Zeit für eine deutsche Band. Um 2.30 Uhr betreten 1000 Robota das Introzelt und zeigen, dass sie nicht nur freche Spitzbuben sind, die kein Blatt vor den Mund nehmen, sondern auch Musik machen können. Vor allem ihre neue, elektronischere Single „Fahr Weg“ weiß zu überzeugen. Eine deutliche Weiterentwicklung im Gegensatz zu ihrem stets nach vorne stürmenden Debüt. Danach ist es aber wirklich Zeit, den Planet MELT! für heute zu verlassen, auch wenn wir noch bis zum Sonnenaufgang hätten weitermachen können. Aber Morgen warten ja auch noch so einige hochwertige musikalische Häppchen, die man nicht nur im Halbschlaf genießen möchte.
Tag 2
Los geht es an diesem Nachmittag mit Jamaica. Hiermit ist weder das Land noch irgendein Reggaeverschnitt gemeint, sondern zwei Franzosen, die auf Phoenix‘ Spuren wandeln und heute die Gemini Stage eröffnen dürfen. Die beiden Pariser rocken kompromisslos und begeistern vor allem mit ihrem Überhit „I Think I Like U 2“. Nach diesem Auftritt dürften sie sicher einige neue Fans gewonnen haben.
Der Samstag steht weiterhin ganz im Zeichen der Duos. Denn sogleich geht es mit den Blood Red Shoes auf zum nächsten Zweiergespann. Laura-Mary Carter und Steven Ansell, zwei jung und harmlos aussehende Musiker von der Insel, die Krach für 10 machen. Vor allem Stevens kompromisslose Bearbeitung der Drums bringt das zunächst noch verschlafene Publikum vor der Mainstage auf Betriebstemperatur. Kollektives Mitsingen bei „I Wish I Was Someone Better“ hilft dabei, auch die letzte Müdigkeit loszuwerden. Und irgendwie ist es ja schon Schicksal, dass ausgerechnet bei „Light It Up“, die bisher hinter einer Wolkendecke versteckte Sonne wieder zum Vorschein kommt. Darüber freut sich Laura-Mary genauso, wie Dirk von Lowtzow sich gestern an gleicher Stelle über das Verschwinden der Sonne gefreut hat. Ob mit oder ohne Sonne, die Blood Red Shoes müssen sich nicht verstecken. Eine exzellente Liveband, genauso wie die nun folgenden An Horse.
Denn mindestens ebenso viel direkte und ehrliche Energie stecken die beiden sympathischen Australier in ihr Set. Mit viel Druck nach vorne tragen sie ihre Songs vor und überzeugen alle, die den Weg in das Introzelt gewagt haben. Wenn sie so weitermachen, dürften ihnen bald größere Bühnen sicher sein, zu wünschen wäre es ihnen auf jeden Fall.
Schließlich folgt, für viele unerwartet, eines der Highlights des sowieso highlightreichen Festivals: Jamie Lidell entführt uns auf seinen Planet Funk. Wer bei ihm ruhig stehen bleiben kann, hat irgendwas nicht verstanden. Anfangs mit Band, haut er uns schon mit seinem zweiten Stück „Another Day“ einen waschechten Hit um die Ohren, den das Publikum lauthals und mindestens ebenso begeistert wie der Künstler mitsingt. Später, als seine Band ihn für einige Songs verlässt, wird er alleine mit Beatbox und Sampler zu einem furiosen Ein-Mann- Orchester. Und das ist grandios, ja umwerfend! Mit offenen Mündern groovt das Publikum im Takt der Musik. Mit „Multiply“ endet dann viel zu schnell sein Set. Die Realität hat uns wieder.
Aber nur kurz, denn die Sterne leuchten jetzt nicht nur am Nachthimmel, sondern stehen auch direkt vor uns im Introzelt. Und dort lautet das Motto heute Nacht auch vor allem : Disco, Disco, Disco. Frank Spilker und seine Bandkollegen halten sich ganz und gar ans aktuelle Album 24/7, das fast in voller Länge zelebriert wird. Zwei Klassiker gibt es dann doch noch „Was hat dich bloß so ruiniert?“ und „Universal Tellerwäscher“.
In Bestform und auch nach 18 Jahren Bandgeschichte mit einer gehörigen Portion Spaß an der Musik, tanzt sich nicht nur das Publikum durch das Set. Nein, auch Frank lässt es sich nicht nehmen, geht auf Tuchfühlung mit dem Publikum, nur um sich bei „Life In Quiz“ und den Zeilen“ Sprich mit meiner Hand“, dem Publikum die Hand entgegenzustrecken und sich von ihm abzuwenden. Alles mit einem Augenzwinkern, versteht sich.
Beim letzten Song „Neblige Lichter“ wagt er sich schließlich ganz über das Absperrgitter und verschwindet irgendwo im Publikum, während die Band ungerührt den Songs zu Ende spielt. Und auch wir verschwinden für heute in der Nacht.
Tag 3
Der letzte Festivaltag ist angebrochen und beginnt sogleich mit einem der besten MELT!-Momente in diesem Jahr. Es ist noch früh, gerade einmal 16 Uhr, als die Norweger von den Kings Of Convenience die Gemini-Stage betreten. Kein Zentimeter Platz ist vor der Bühne oder an den Treppen rundherum zu finden, so voll ist es. Alle wollen beim ersten Festivalauftritt der Beiden dabei sein. Entspannt, locker und leicht spielen sie sich, die die ersten 40 Minuten ganz alleine auf der Bühne, nur begleitet von zwei Akustikgitarren, stehen, in die Herzen der aufmerksamen Zuhörer. Perfekt harmonierende Stimmen, wunderschön gezupfte Melodien, dem kann man sich nicht entziehen.
Nach 40 Minuten gibt es dann Verstärkung durch Geige und Bass, aber reduziert aufs Wesentliche bleiben ihre Songs allemal. Zwischendrin wird das Publikum immer wieder animiert sich zu beteiligen ob durch Schnipsen („Klatschen ist ja was für Erik Clapton Konzerte“), mitsingen oder nachahmen elektronischer Musik („Wir sind keine elektronische Band“ heben die Beiden immer wieder hervor). Allen voran Erlend Øye ist ein unglaublich unterhaltsamer Mensch, den man am liebsten auf seine nächste Party einladen würde. Er kommuniziert zwischen den Songs immer wieder mit dem Publikum, hat keine Scheu die Festivalbesucher einzeln zu mustern und gibt schließlich auch praktische Tipps wie wir die Wärme, die sich heute langsam ausbreitet, besser überstehen können.
Ganze eineinhalb Stunden haben die Kings Of Convenience Zeit ihre Songs zu präsentieren. Mit „I Rather Dance With You“ verschwinden sie dann erst einmal von der Bühne. Das Publikum möchte sie aber noch lange nicht gehen lassen. Also gibt es dann doch ein paar Zugaben. Erst „Homesick“, später wird dann „No Woman, No Cry“ gecovert und Erlend spielt hervorragend Mundtrompete. Absolut hochklassisch.
Weitaus rockiger geht es weiter mit den beiden Schweden von Johnossi (jaja schon wieder ein Duo) auf der Hauptbühne. Mit Akustikgitarre und Schlagzeug kreieren die beiden einen so dichten Sound wie manch andere fünfköpfige Band. Der Überhit beim Publikum ist und bleibt wohl „Man Must Dance“. Trotzdem, ein wenig lustlos wirken sie schon als sie schließlich nach 40 Minuten wortlos die Bühne verlassen. Vielleicht war es ihnen aber auch einfach zu heiß.
Um 18.30 Uhr betreten viel zu früh Get Well Soon die Bühne. Musikalisch hochwertig und stets berührend tragen Konstantin Groper und seine Band ihre düsteren Songs vor. Leider fehlt die Dunkelheit, die es für eine Band wie diese gebraucht hätte, um wirklich ihr ganzes Potenzial zu erkennen. Songs wie „Burial At Sea“ funktionieren bei strahlender Sonne nun mal leider nicht so gut wie in der Nacht. Gänsehaut kriegen wir allerdings auch so.
Sommerlich leichter geht es dann bei der Supergroup Broken Bells zu. Danger Mouse Mastermind Brian Burton und The Shins Frontmann James Mercer haben sich live gleich mit ganzen fünf Musikern verstärkt und so wirken ihre Songs druckvoller als auf Platte. Steht ihnen gut zu Gesicht. Trotzdem, so ganz will der Funke nicht überspringen. Allenfalls beim Überhit „The High Road“.
Während Goldfrapp sich langsam fertig machen, stehen wir nun auf einem der Bagger und lauschen bei der untergehenden Sonne den Dänen von WhoMadeWho, die in luftiger Höhe einen exklusiven Vorgeschmack auf das geben, was heute Nacht noch folgen wird. Eine bessere Location hätten sie sich nicht aussuchen können für ein Konzert. Das Publikum, das die nicht vorhandene Snaredrum ersetzen muss, hüpft begeistert zu „Space For Rent“ und „Keep Me In My Plane“ mit. Der Bagger wackelt. Egal, weiter gehts mit der offiziellen MELT!-Hymne „Gigantische Stahlgiganten“.
Nach dem Abstieg bleibt noch kurz Zeit für den zweiten Teil des beeindruckenden Sets von Goldfrapp, bevor die Headliner des heutigen Abends dran sind. Keine geringeren als die Trip Hop Pioniere Massive Attack geben sich die Ehre. Bleischwerer, dichter Sound macht sich vor der Hauptbühne breit, der unsere Körper erbeben lässt. Bei „Angel“ wird der Sound von gespielter Note zu Note lauter und sorgt im Finale dafür, dass wir uns Sorgen um unsere Ohren machen müssen. Bei Massive Attack geht es allerdings nicht nur um Musik, sondern auch um ein visuelles Gesamtkonzept. Die Band ist kaum zu sehen, viel wichtiger sind die Lichter und LED-Schriftzüge, die uns gleich Medienkritik mitliefern. In kleinen Buchstaben lesen wir auf Deutsch Nachrichtenüberschriften, bevor uns in großen roten Lettern Bildzeitungswürdige Nebensächlichkeiten über Victoria Beckham und Co. präsentiert werden. Firmenlogos aller erdenklicher Arten erinnern uns daran, wie abhängig wir doch heutzutage von den Medien geworden sind. Bei dem wunderbaren „Teardrop“ starren uns dann zwei Augen entgegen, nur einmal sehen wir sie blinzeln. Gepaart mit der Musik gelingt es Massive Attack und ihren Mitmusikern, einen rundum beeindruckenden Auftritt hinzulegen, der einen gefangen nimmt.
Absolut Headlinerwürdig, keine Frage.
Als letzten Act dieses Festivals gibt es für uns im Introzelt WhoMadeWho, die diesmal mit Snare und Synthies ausgestattet alles geben. Von „Keep Me In My Plane“ über „Satisfaction“ bis hin zur Festivalhymne wird alles gespielt, da bleibt kein Wunsch offen. Auch neue Songs finden den Weg in die Setlist und knüpfen nahtlos an die älteren WhoMadeWho-Veröffentlichungen an. Irgendwann werden Gitarre, Bass und Schlagzeug zur Seite gelegt und die drei kommen nach vorne und toben sich jeweils an einem Synthesizer aus. Das Publikum holt noch einmal die restlichen Kraftreserven raus und tanzt, was das Zeug hält. WhoMadeWho machen süchtig, auch nach dem ersten Zugabenblock will sie niemand gehen lassen. Unter riesigem Jubel kommen die drei also noch einmal auf die Bühne und geben uns „Free Jazz“. Tomboy haut auf die Drums, während Thomas den Synthesizer zum Kochen bringt. Und Jeppe kämpft mit seiner Gitarre, die für heute Nacht genug hat. Egal, dann bespritzt er eben die vorderen Reihen mit Sekt und nimmt ein Bad in der Menge, bevor er am Ende noch einmal den Refrain von „Gigantische Stahlgiganten“ ins Mikro haucht. Ja, gigantisch war das MELT! auch in diesem Jahr wieder. Ein Festival voller musikalischer Highlights, das wir so schnell nicht vergessen werden. Wir freuen uns schon aufs nächste Jahr, wenn es wieder heißt: Auf zu den Stahlgiganten.
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