Schrottgrenze – Glitzer auf Beton
Nachdem Schrottgrenze vor 10 Jahren ihr letztes Studioalbum veröffentlicht haben, kam es 2010 zum Split. Aus heutiger Sicht macht es mehr Sinn, von einer Pause zu sprechen, die – laut ihres Labels – seitens der Mitglieder zur Klärung privater Belange und der persönlichen Identität genutzt wurde. Sänger und Gitarrist Alex Tsitsigias setzte sich – neben anderen musikalischen Projekten – aktiv mit sich und seinem Selbst auseinander. Momentaufnahmen dieser Klärung finden sich auf dem neuen Longplayer GLITZER AUF BETON wieder.
Schrottgrenze schaffen die Identitätsfindung ihres Frontmanns in wunderschönen Indiepop- & Rocksongs zu vertonen. Die Schmerzen, die Ambivalenzen der Selbstwahrnehmung, die Zweifel und die Tränen, die dieser Prozess für Tsitsigias mit sich gebracht hat, lassen sich in den zuckersüßen Perlen nur schwerlich vermuten. Vielmehr wartet GLITZER AUF BETON mit allem auf, was Indie-Musik aus Hamburg ausmacht. Eingängige Melodien, Rhythmen, die sich beim Hörer in den Ohren festsetzen und Texte, die sich kritisch mit Themen aus der Gesellschaft befassen.
Mit dem ersten Song „Glitzer auf Beton“ wird dem Hörer in Form eines Powerpopstücks kurz und pragmatisch der Rahmen des Albums skizziert, der nicht weniger als das Coming out und die Identitätsfindung des Sängers umfasst. Der Song beschreibt dieses Thema so leicht und einfach, dass es beim Zuhörer nur auf Verwunderung stößt. Der Refrain lässt darauf schließen, dass der Protagonist bei sich angekommen ist. Mit „Lashes to Lashes“ geht die Band noch einen Schritt weiter – wahrscheinlich ist die Rolle, die ein Mensch in der Queerszene wahrnimmt, selten so treffend, ironisch und mit einem Schuss Sarkasmus pointiert in Indie-Rhythmen verpackt worden. Mit „Christiane“ bringen Schrottgrenze eine wunderschöne Hommage an eine ganz große Liebe, die mittlerweile offensichtlicher Weise nicht mehr existiert. Diese große Liebe wird entkoppelt von Klischees und Geschlechterkonstrukten in Beziehungen beschrieben.
Das Album ist ein Überraschungstreffer zu Beginn des Jahres, weil es einerseits schlichtweg ein gutes Indie-Album ist und andererseits erfrischend offen und unprätentiös mit der Thematik Coming Out umgeht.
VÖ: 20. Januar 2017, Tapete Records, http://www.tapeterecords.de/artists/schrottgrenze/
Ohr d’Oeuvre: Glitzer auf Beton/ Lashes to Lashes/ Christiane
Gesamteindruck: 7/10
Tracklist: Glitzer auf Beton/ Sterne/ Januar Boy*/ Lashes to Lashes/ Ostern/ Halbfrei/ Schlaf die Schmerzen weg/ Dulsberg/ Seit gestern/ Zeitmaschinen/ Spuren von Dir/ Christiane
(kof)
Der Ringer – Soft Kill
„Ich möchte doch nur erwachsen sein, Ohnmacht mir zittern die Knie...“ – Wunsch und Wirklichkeit, Drang und Abgeklärtheit, Süße und Lakonie! Der Ringer entpuppen sich ihrem Debüt SOFT KILL als Grenzgänger zwischen Sounds und Welten und schaffen eine Soundlandschaft, in der man sich verlieren kann.
Man kennt dieses Gefühl, zwischen dem inneren und dem äußeren Sinneschaos gefangen zu sein. Man ist sich nicht sicher, passiert das jetzt gerade oder träume ich das nur. Alles wirkt ein wenig abstrakt und schön, trotzdem schwingt darunter die Bedrohung mit, das könne alles einstürzen. So funktioniert ein wenig das Debüt SOFT KILL der Hamburger Band Der Ringer.
Äußerlich verbinden sie die besten Zutaten des letzten Musikjahres mit dem Popwave der 1980er zu einem pulsierenden und fragilen Melodienmix. Darunter ist aber immer so eine fragile Schwingung – vor allem transportiert durch die lakonischen Texte – zu spüren, dass diese Poppigkeit jederzeit in einem unstrukturierten Soundchaos („Violence“) münden könnte. Eine merkwürdige Fiebrigkeit umgibt die Songs, die man zuletzt vielleicht auf Kantes ZOMBIE so gehört hat.
Glücklicherweise – zumindest aus konventioneller Hörersicht – geben Der Ringer dieser Neigung meist nicht nach. Vielmehr schichten sie immer neue Sounds aufeinander, um in den besten Momenten die Songs in euphorischen Refrains aufzulösen („Morton Morbid“, „Apparat“). Geschickt kombinieren sie den Post Punk von Friends of Gas mit den Dronesounds von All diese Gewalt („Violence“). Zwischendurch klingt die anarcho – romantische Seite von Isolation Berlin heraus. Denen verhalfen Der Ringer im letzte Jahr zu einer ungewöhnlichen Tiefe und Glaubhaftigkeit durch die Vertonung der eher hedonistisch geprägten Texte auf der gemeinsamen Split EP.
Geschenkt ist, dass die Band über die unaufgeregten Synth- und Gitarrenmelodien, eine bittersüße Popdramatik legt, die ein wenig an die MTV Helden AHA oder Talking Heads erinnert („Soma“). Vielleicht ist es diese Lakonie verbunden mit einem gewissen Hang und Mut zur Dramatik die Der Ringer und SOFT KILL aus den Milllionen Post Punk und Elektroindieplatten heraus stechen lassen. Vielleicht ist die Legende ja wahr, dass die fünf sich in einer Theater AG kennengelernt haben. Zumindest würde dies das Grenzgängertum zwischen Abgeklärtheit und Romantik erklären. Wir heften uns die blaue Blume an, um sie mit dem nächsten Korn ordentlich zu begiessen.
VÖ: 27. Januar 2017, Staatsakt / Caroline, https://der-ringer.com/
Ohr d’Oeuvre: Soma / Morton Morbid / Apparat
Gesamteindruck: 7/10
Tracklist: Orbit/ Apparat/ Morton Morbid/ Frost/ Mikroskop/ Soma/ Knockenbrecher/ Kanada/ Violence/ Ohnmacht
(pd)