Wieder hier
Eine Konzertabsage aufgrund einer Erkrankung in einer bereits mit Publikum gefüllten Venue, ist für die Zuschauer sicherlich das Worst Case-, für Künstler und Veranstalter (auch wenn den finanziellen Schaden Versicherungen abfedern können) zumindest ein ziemlich unangenehmes Szenario. Bei Marius Müller-Westernhagen ist genau dieser Fall im Mai in Stuttgart eingetreten. Die Fans reagierten jedoch, wenn man sich Reels oder Clips von der Veranstalter-Durchsage in der Schleyerhalle anschaut, recht verständnisvoll und nicht gerade so, wie man es Westernhagens Kernzielgruppe – den Babyboomern – gerne unterstellt.
Auch vor dem heutigen Konzert, in der mit 8000 Besuchern gut gefüllten aber nicht ausverkauften Freilichtbühne an der Loreley im Mittelrheintal, die 1934 von den Nationalsozialisten eröffnet wurde und in der von Montag bis Mittwoch die BÖHSEn ONKELZ auftraten, musste der gebürtige Düsseldorfer und Wahl-Berliner Rockmusiker erneut einige Shows wegen einer hartnäckigen Virus-Infektion absagen.
Bluesmusik, Schmerz und Leiden(schaft)
Als Westernhagen um kurz nach 20 Uhr sein Konzert mit einer seiner neueren Nummern – dem cringigen “Alphatier” – eröffnet, haben die Zuschauer das Wissen über seine Erkrankung und die abgesagten Veranstaltungen natürlich im Hinterkopf. Man stellt schnell fest, dass die Zeiten in denen MMW sich auf der Bühne den Arsch abwackelt und mehrere Kilometer Laufstrecke mit herausgestreckter Zunge absolviert, nun endgültig vorüber sind. Und was soll man dazu sagen? Das ist gut so!
Mit dem Alter und dem Wissen um die eigene Endlichkeit, scheint sich eine neue Ernsthaftigkeit und Vehemenz im Vortrag niedergeschlagen zu haben. Die oft nicht ganz zu Unrecht unterstellte Arroganz und Eitelkeit des Sängers und Songwriters, wirkt heute wie weggefegt. Ganz im Gegenteil: Man spürt bei ihm Demut und aufrichtige Dankbarkeit dafür, dass er erstens heute Abend überhaupt wieder auftreten kann und zweitens, dass überhaupt noch so viele Menschen den Weg zu seinem Konzert gefunden haben.
Man sieht in fast jedem Moment, wieviel Mühe es MMW macht, seine Lieder mit der notwendigen Intensität und Lautstärke zu singen. Aber es gelingt. Das ist genau die Schule der Bluesmusik, aus der auch Jagger und Richards kommen, bei der die Frage danach, wie lange man das eigentlich noch machen will, bei den Befragten überhaupt nicht verstanden wird, weil es hier nicht um eine Tätigkeit oder einen Job geht. Und trotz der offensichtlichen Anstrengung, entstehen heute einige sehr bemerkenswerte Momente. Bei der Ankündigung von “Die Wahrheit” aus der aktuellen Platte “Das eine Leben”, spricht MMW den Elefanten im Raum an, was sicherlich früher auch nie zu seinem Stärken gehörte, nämlich dass das Stück keiner kennen würde. Es ist tatsächlich auch das erste Lied, bei dem sich große Teile des Publikums eine kleine Sitzpause gönnen. Westernhagen kennt seine Leute.
Die interessantesten und ergreifendsten Momente entstehen heute Abend, wenn sich bei vermeintlich totgespielten Nummern, aufgrund den neuen, bereits erwähnten Rahmenbedingungen, völlig neue Interpretationsmöglichkeiten und Erkenntnisse einstellen. Drei Situationen sind besonders erwähnenswert.
Der meint es ernst
In der Konzertmitte, bei “Sexy”, einem seiner erfolgreichsten Stücke (in Bezug auf Streams), dass zwar etwas – zumindest für Puristen – unter der Abwesenheit von Bläsersetzen leiden mag, betont Westernhagen die Zeile “es ist mir scheißegal, mach ich mich lächerlich”. Und dass er damit heute nicht mehr die (sexuelle) Abhängigkeit zur weiblichen Protagonistin im Song meint, muss wohl den meisten heute Abend aufgehen, wie er den Teil des Tracks auf der Treppe sitzend intoniert und herausstellt.
Die neu behauptete Bodenständigkeit, des 1998 auf “Radio Maria” veröffentlichten “Wieder hier”, haben viele Kritiker und auch Fans dem Künstler damals nicht abgenommen. Wenn MMW die Nummer heute mit Tränen in den Augen singt, muss man schon ein sehr zynischer Zeitgenosse sein, wenn man dies für eine inszenierte Schauspielerei hält, mit der Projektion entsprechender Close-Ups auf den beiden Videowänden.
Den Höhepunkt stellt aber sicher die erste von sieben Zugaben dar, das vor 41 Jahren (!) veröffentlichte, ebenfalls als sicher totgenudelt wahrgenommene, heute prophetische und letztendlich völlig zeitlose “Lass uns leben”, mit den vier besten Zeilen, die Marius Müller-Westernhagen jemals geschrieben hat:
Sie reden wieder mal vom Krieg
Träumen wieder mal vom Sieg
Schwärmen von vergangner Zeit
Was soll’s: ICH LEBE
Fazit: ein sehr gutes Konzert. Und es gibt sogar noch Westernhagen-Ultras. Gertenschlanke Sturzbesoffene mit Stinker-Tour’81 T-Shirts, die nach der Show die Teile des Publikums anpöbeln, die es wagen das Gelände schon zu verlassen und nicht mit ihnen gemeinsam die Bierbuden trockensaufen wollen.
Danke auch dafür, dass auf „Willenlos“ verzichtet wurde!