PRIMAL SCREAM für Großbritannien, – das ist ungefähr das, was PUR für Deutschland ist. Moment, stopp! Bevor jetzt alle kollektiv den Kopf schütteln, ein Erklärungsversuch:
Wir müssen ehrlich sein. In jedem Liverpooler McDonald’s läuft wahrscheinlich mindestens so gute Musik wie auf dem Berliner Radiosender radioeins – der damit definitiv eine Ausnahme in Deutschland darstellt. Die bundesrepublikanische Musikrealität sieht jedoch etwas anders aus. Zwischen Helene Fischer und deutschem Hip-Hop, zwischen Ballermann-Hits und dem ewigen Wiederkäuen der Achtziger bewegt sich das, was hierzulande als Mainstream durchgeht. Umso faszinierender wird der Blick auf zwei Bands, die auf völlig unterschiedliche Weise versuchten, amerikanische Musikträume in ihre Heimat zu importieren.
Bei genauerer Betrachtung sind sich beide Bands nämlich deutlich ähnlicher, als man im ersten Moment glaubt. Beide forschten unterschiedlichen Vorstellungen von Amerika nach. PUR holten den Album-Oriented Rock (AOR) nach Deutschland – jenen perfekt produzierten, radiofähigen Sound der amerikanischen Stadien-Ära. Bobby Gillespie hingegen suchte stets nach dem Ursprung der amerikanischen Rockmusik: Gospel, Blues, Soul – die rauen Wurzeln dessen, was später zu Glitzer und Bombast wurde. Chris Imler hat diese Entwicklung in unserem Interview sehr genau beschrieben.
Zwei Sehnsüchte, ein Phantom: der amerikanische Sound.
PUR versuchten, amerikanische Radiomusik in deutsche Worte zu fassen – und lieferten damit den Soundtrack für die Spotify-Playlist von Markus Söder. Musik für Familienfeste, wenn die dritte Runde auf die Bierbank gestellt wird. Stadionrock mit dem Reinlichkeitsversprechen eines Zahnarzt-Wartezimmers.
PRIMAL SCREAM hingegen jagten einem anderen Ideal amerikanischer Musik nach – in einer ganz eigenen Sprache. Während Hartmut Engler seine Gefühle in hochglanzpoliertes Studio-Pathos legte, verschanzten sich Gillespie und Co. mit gigantischen Amphetamin-Vorräten in verrauchten Proberäumen, zwischen Gospel-Platten, Garage-Tapes und einem ernst gemeinten Glauben an Katharsis.
Aber auch PRIMAL SCREAM griffen mal daneben – Give Out, But Don’t Give Up (1994) irritierte nicht nur mit der Südstaatenflagge auf dem Cover, sondern auch mit einem Sound, der in Teilen klang, als hätte jemand die STONES mit Hüftarthrose neu eingespielt. Vom Schweinerock hat sich Bobby Gillespie mittlerweile verabschiedet – vom Amphetamingeruch allerdings nie ganz.
Bobby Gillespie und die Kunst der permanenten Neuerfindung
PRIMAL SCREAM sind mehr als ein Relikt aus der Acid-House-Ära. Sie sind eine der wenigen britischen Bands, die sich über vier Jahrzehnte hinweg neu erfunden haben, ohne zur Karikatur zu werden. Frontmann Bobby Gillespie, einst Drummer bei THE JESUS AND MARY CHAIN, hat mit wechselnden Mitstreitern ein Werk geschaffen, das von Indie-Pop über Dance bis zu Industrial reicht – und nie auf der Stelle tritt.
Die elf Songs auf dem aktuellen Album Come Ahead entstanden aus einer persönlichen Krise heraus. Gillespie war sich 2022 nicht sicher, ob er überhaupt noch ein Album aufnehmen wollte – besonders nach dem Tod des langjährigen Keyboarders Martin Duffy. So entstand eine Platte mit den persönlichsten Texten, die Gillespie je geschrieben hat.
Songs wie „Love Insurrection“, „Innocent Money“ und „Heal Yourself“ zeigen eine Band, die gekonnt zwischen Disco-Electro und Classic-Rock mit Glam-Elementen navigiert. Besonders „Innocent Money“ sticht hervor: Der Track verbindet den mysteriösen Charme der Blaxploitation-Soundtracks im Stil von Isaac Hayes und Curtis Mayfield mit modernem Sprechgesang. Wah-Wah-Bass, fette Reverbs und funkiger Background-Gesang erschaffen eine spannende Dramaturgie, in der sich Gillespie bewusst zurücknimmt und die Background-Sängerinnen in den Vordergrund rücken. Das Album wurde von der Kritik durchweg positiv aufgenommen. Record Collector beschrieb es als „Album einer Band, die hörbar wiedergeboren wurde“.
Die Dub-Version: Remixen mit Haltung
Come Ahead wurde zeitgleich auch als Remix-Projekt neu gedacht: Vol. 1 (Vocals) erschien am 28. März 2025, Vol. 2 (Dubs) folgte wenig später. Beide Versionen führen die Remix-Tradition von Screamadelica fort – mit Beiträgen von Terry Farley, Tim Goldsworthy, BLACK SCIENCE ORCHESTRA und PET SHOP BOYS-Frontmann Neil Tennant. Gillespie selbst erinnert an Andrew Weatheralls Einfluss auf die Band – und das ist als Referenzpunkt oder Maßstab sehr deutlich.
Live in Köln und Berlin
Am 8. Juni 2025 treten PRIMAL SCREAM im Bürgerhaus Stollwerck in Köln auf. Es ist ihr erstes Deutschlandkonzert seit acht Jahren, gefolgt vom einzigen weiteren Termin im Berliner Kesselhaus. Für die Tour wurde die Band auf zwölf Mitglieder erweitert – darunter Sängerinnen des HOUSE GOSPEL CHOIR, Alex White (FAT WHITE FAMILY) am Saxophon und Terry Miles (GO-KART MOZART) an den Keyboards.
Tickets gibt es hier.